Grischa: Goldene Flammen
Wolfsrachens. »Ich möchte, dass wir Freunde sind. Es ist wichtig, dass wir Freunde sind.«
»Natürlich.«
»Ich wäre dir dankbar, wenn du ein Geschenk annehmen würdest«, sagte er, griff in die Falten seiner braunen Kutte und zog ein kleines, in rotes Leder gebundenes Buch hervor.
Wie konnte jemand, der einem etwas schenken wollte, so gespenstisch klingen?
Ich beugte mich zögernd vor und nahm das Buch aus seiner langen, von blauen Venen bedeckten Hand entgegen. Der Titel war in Gold auf dem Umschlag eingeprägt: Istorii Sanktâja .
»Das Leben der Heiligen?«
Er nickte. »Früher bekam jedes Grischa-Kind, das hier im Kleinen Palast zur Schule ging, dieses Buch.«
»Vielen Dank«, sagte ich verblüfft.
»Die Bauern verehren ihre Heiligen und sie sehnen sich nach Wundern. Trotzdem lieben sie die Grischa nicht. Woran liegt das deiner Meinung nach?«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, sagte ich und schlug das Buch auf. Jemand hatte meinen Namen auf die erste Seite geschrieben. Ich blätterte weiter. Sankt Pjotr von Brewno . Sankt Ilja in Ketten . Sankta Lisaweta . Jedes Kapitel begann mit einer ganzseitigen Illustration, wunderschön gezeichnet und vielfarbig koloriert.
»Es liegt vermutlich daran, dass die Grischa nicht so leiden wie die Heiligen oder das einfache Volk.«
»Kann sein«, sagte ich abwesend.
»Aber du hast gelitten, Alina Starkowa, nicht wahr? Und ich denke ⦠ja, ich denke, dein Leid ist noch nicht zu Ende.«
Ich riss den Kopf hoch. Zuerst glaubte ich, er wollte mir drohen, doch in seinem Blick lag ein seltsames Mitgefühl, das noch viel schrecklicher war.
Ich sah wieder das Buch auf meinem Schoà an. Mein Finger lag auf einer Illustration, die die auf einem Rosenfeld gemarterte und dann gevierteilte Sankta Lisaweta zeigte. Ihr Blut strömte wie ein Fluss durch die Blumen. Ich klappte das Buch zu und sprang hoch. »Ich muss los.«
Der Asket erhob sich und ich glaubte kurz, er wollte mich aufhalten. »Mein Geschenk gefällt dir nicht.«
»Doch, doch. Es ist sehr schön. Vielen Dank. Aber ich will nicht zu spät kommen«, stotterte ich.
Ich schoss an ihm vorbei aus der Bibliothek und holte erst wieder richtig Luft, als ich in meinem Zimmer war. Ich warf das Buch über die Heiligen in die unterste Schublade meiner Kommode und knallte sie zu.
Was hatte der Asket von mir gewollt? Waren seine Worte eine Drohung gewesen? Oder eine Warnung?
Als ich tief Luft holte, schwappten Müdigkeit und Verwirrung wie eine Welle über mich. Ich vermisste den lockeren Arbeitsalltag im Dokumentenzelt, die tröstliche Einförmigkeit meines Lebens als Kartografin. Damals wurde nicht mehr von mir erwartet als ein paar Zeichnungen und ein sauber geordneter Arbeitstisch. Ich vermisste den vertrauten Geruch von Tinte und Papier. Am meisten vermisste ich Maljen.
Ich hatte ihm jede Woche einen Brief geschrieben, adressiert an sein Regiment, aber ich hatte nie eine Antwort erhalten. Ich wusste, dass auf die Post nicht immer Verlass war, und es war gut möglich, dass man seine Einheit von der Schattenflur abgezogen, vielleicht sogar nach West-Rawka beordert hatte, aber ich hoffte weiterhin, bald von ihm zu hören. Von der Vorstellung, dass er mich im Kleinen Palast besuchte, war ich längst abgekommen. Ich vermisste ihn zwar sehr, aber wenn er gemerkt hätte, dass ich mich in meinem neuen Leben genauso unwohl fühlte wie in meinem alten, wäre das schwer erträglich für mich gewesen.
Immer wenn ich mich nach einem weiteren sinnlosen Tag abends die Treppen zu meinem Zimmer hinaufschleppte, stellte ich mir vor, dass sein Brief auf der Kommode auf mich wartete, und dieser Gedanke beschleunigte meine Schritte. Aber die Zeit verging, ohne dass ich Post von ihm bekam.
An diesem Tag war es nicht anders. Ich fuhr mit der Hand über die leere Tischplatte.
»Wo bist du, Maljen?«, flüsterte ich. Aber da war niemand, der mir antworten konnte.
Ich hatte geglaubt, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte, aber ich hatte mich geirrt.
Ich saà im Kuppelsaal beim Frühstück, als die Flügeltüren des Haupteingangs aufgestoÃen wurden und eine Schar fremder Grischa eintrat. Ich beachtete sie kaum. Grischa im Dienst des Dunklen kamen und gingen im Kleinen Palast mit schöner RegelmäÃigkeit. Manche erholten sich von Wunden, die ihnen an der nördlichen
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