Grischa: Goldene Flammen
seltsamen Verhaltens zu sorgen.
»Er ist unheimlich«, gab sie zu. »Aber harmlos.«
»Er ist nicht harmlos. Du hättest ihn sehen sollen. Er macht einen vollkommen verrückten Eindruck.«
»Er ist nur ein Priester.«
»Warum ist er überhaupt zu mir gekommen?«
Genja zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat der Zar ihn aufgefordert, für dich zu beten.«
»Ich bleibe hier keine weitere Nacht. Ich will in meinem Zimmer schlafen. Hinter verschlossener Tür.«
Genja sah sich in der kahlen Krankenstation um. »Nun ja«, sagte sie, »das kann ich durchaus verstehen. Ich würde hier auch nicht bleiben wollen.« Sie musterte mich. »Du siehst grässlich aus«, sagte sie, taktvoll wie immer. »Soll ich dich ein bisschen auffrischen?«
»Nein.«
»Ich entferne nur die dunklen Ringe unter deinen Augen.«
»Nein!«, erwiderte ich trotzig. »Aber du kannst mir einen Gefallen tun.«
»Soll ich die Schatulle mit meinen Sachen holen?«, fragte sie eifrig.
Ich zog eine Grimasse. »Das meine ich nicht. Der Gefallen betrifft einen Freund, der auf der Schattenflur verwundet wurde ⦠Ich habe ihm geschrieben, aber ich weià nicht, ob er meine Briefe erhält.« Ich spürte, wie sich meine Wangen röteten, und sprach schnell weiter: »Kannst du herausfinden, wie es ihm geht und wo er stationiert ist? AuÃer dir kann ich niemanden bitten. Du bist fast immer im GroÃen Palast und könntest es vielleicht herausfinden.«
»Natürlich, aber ⦠nun ja ⦠Hast du auf die Verlustlisten geschaut?«
Als ich nickte, hatte ich einen Kloà im Hals. Genja ging Papier und Stift holen, damit ich ihr Maljens Namen aufschreiben konnte.
Ich rieb mir seufzend die Augen. Ich wusste nicht, was von Maljens Schweigen zu halten war. Jede Woche studierte ich die Verlustlisten. Meine Angst, seinen Namen darauf zu finden, war so groÃ, dass sich mein Magen verkrampfte und mein Herz raste. Jede Woche dankte ich den Heiligen dafür, dass er noch lebte und in Sicherheit war, auch wenn er offenbar nicht auf die Idee kam, mir zu schreiben.
Aber stimmte das? Ich spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen. Vielleicht war Maljen froh, dass ich weg war, froh, sich seinen Kumpanen und alltäglichen Verpflichtungen widmen zu können. Oder spiele ich hier die Keifziege, während er in irgendeinem Lazarett liegt?, ermahnte ich mich.
Sobald Genja wieder da war, notierte ich Maljens Namen, sein Regiment und die Nummer seiner Einheit. Sie faltete den Zettel zusammen und schob ihn in einen Ãrmel ihrer Kefta.
»Danke«, sagte ich heiser.
»Er ist bestimmt wohlauf«, sagte sie und drückte sanft meine Hand. »Und nun leg dich hin, damit ich mich um die dunklen Ringe kümmern kann.«
»Genja!«
»Leg dich hin, oder du kannst den kleinen Gefallen vergessen.«
Mein Mund klappte auf. »Du bist ein Miststück.«
»Ich bin ein Prachtstück.«
Ich starrte sie wütend an und lieà mich dann auf das Kissen fallen.
Nachdem Genja gegangen war, leitete ich die Rückkehr auf mein Zimmer in die Wege. Der Heiler war nicht erfreut, aber ich blieb hart. Ich fühlte mich nicht mehr angeschlagen und ich wollte auf keinen Fall eine weitere Nacht in dieser menschenleeren Krankenstation verbringen.
In meinem Zimmer nahm ich erst einmal ein Bad und versuchte danach, eines der theoretischen Werke zu lesen. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich fürchtete mich davor, meinen Unterricht morgen wieder aufzunehmen, und ich fürchtete mich vor einer weiteren fruchtlosen Stunde bei Baghra.
Nach meiner Ankunft im Kleinen Palast hatte man viel über mich getuschelt und mich immer wieder angestarrt. Das hatte mit der Zeit abgenommen, aber ich war überzeugt, dass mein Kampf mit Zoja für erneute Gerüchte und frische Aufmerksamkeit sorgen würde.
Ich stand auf und reckte mich. Dabei erhaschte ich im Spiegel über der Frisierkommode einen Blick auf mein Gesicht und ich ging hin, um mich genauer zu betrachten.
Die dunklen Ringe unter meinen Augen waren verschwunden, aber ich wusste, dass sie innerhalb weniger Tage wieder erscheinen würden. AuÃerdem änderte es nicht viel, dass sie weg waren, denn ich sah aus wie immer: müde, kränklich, dürr. Nicht wie eine echte Grischa. Die Macht war da, irgendwo in meinem Inneren, aber ich kam nicht an sie heran, und ich wusste
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