Grischa: Goldene Flammen
nicht, warum. Warum war ich anders als die übrigen Grischa? Warum hatte es so lange gedauert, bis meine Macht sich gezeigt hatte? Und warum konnte ich nicht selbstständig auf sie zugreifen?
Im Spiegel sah ich die dicken goldenen Vorhänge neben den Fenstern, die in leuchtenden Farben gestrichenen Wände, die im Feuerschein glitzernden Kaminkacheln. Zoja mochte eine schreckliche Person sein, aber sie hatte nicht Unrecht: In dieser Welt der Schönheit war ich fehl am Platz, und wenn ich keine Möglichkeit fand, meine Macht zu benutzen, würde ich nie einen Platz darin finden.
Der nächste Vormittag war nicht so schlimm wie erwartet. Zoja hielt sich schon im Kuppelsaal auf, als ich eintrat. Sie frühstückte allein am Ende des Tisches der Beschwörer. Sie sah nicht auf, als Marie und Nadja mich lautstark begrüÃten, und ich versuchte, sie auch zu ignorieren.
Ich genoss jeden Schritt auf dem Weg zum See. Die Sonne schien hell, die Luft kühlte meine Wangen und ich verdrängte den Gedanken an Baghras kerkerartige, stickige, fensterlose Hütte so lange wie möglich. Als ich die Stufen zu ihrer Tür hinaufstieg, hörte ich laute Stimmen.
Ich zögerte, dann klopfte ich leise. Die Stimmen wurden sofort gesenkt und ich stieà die Tür auf und spähte hinein. Der Dunkle stand mit zorniger Miene vor Baghras gekacheltem Kamin.
»Entschuldigung«, sagte ich und wollte wieder umkehren.
Aber Baghra fauchte nur: »Rein mit dir, Mädchen. Lass die Hitze nicht raus.«
Nachdem ich eingetreten war und die Tür geschlossen hatte, begrüÃte mich der Dunkle mit einer leichten Verbeugung. »Wie geht es dir, Alina?«
»Ganz gut«, brachte ich hervor.
»Ganz gut!«, höhnte Baghra. »Es geht ihr ganz gut! Sie kann nicht einmal für Licht in einem Flur sorgen, aber es geht ihr ganz gut.«
Ich wand mich innerlich und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Zu meiner Ãberraschung sagte der Dunkle: »Lass sie in Ruhe.«
Baghra verengte die Augen. »Das hättest du wohl gern, wie?«
Der Dunkle seufzte und fuhr sich mit den Händen durch die Haare, bis sie wirr vom Kopf abstanden. Als er mich ansah, lächelte er wehmütig. »Baghra regelt die Dinge auf ihre eigene Art«, sagte er.
»Tu nicht so gönnerhaft, Junge!« Ihre Stimme glich einem Peitschenhieb. Zu meinem Erstaunen sah ich, wie der Dunkle den Rücken durchdrückte und das Gesicht verzog, als müsste er sich beherrschen.
»Hör auf, mich anzukeifen, altes Weib«, sagte er leise und mit drohendem Unterton.
Zornige Energie knisterte im Raum. In was war ich da hineingeraten? Ich erwog, heimlich, still und leise das Weite zu suchen und die beiden ihrem Streit zu überlassen, worum auch immer er sich drehte, aber da peitschte Baghras Stimme schon wieder durch den Raum. »Der Junge überlegt, dir einen Kräftemehrer zu besorgen«, sagte sie. »Was hältst du davon, Mädchen?«
Ich war so verblüfft, weil sie den Dunklen als »Jungen« bezeichnete, dass ich ihre Worte zunächst nicht begriff. Doch sobald mir dämmerte, was sie gesagt hatte, durchströmten mich Hoffnung und Erleichterung. Ein Kräftemehrer! Warum hatte ich nicht schon selbst daran gedacht? Warum hatten sie nicht schon selbst daran gedacht? Baghra und der Dunkle konnten mir helfen, meine Macht zu wecken, weil beide leibhaftige Kräftemehrer waren. Warum also kein eigener Kräftemehrer wie Iwans Bärenkrallen oder der Seehundzahn, den Marie um den Hals trug?
»Das ist eine groÃartige Idee!«, rief ich lauter als beabsichtigt.
Baghra brummte angewidert.
Der Dunkle sah sie scharf an, wandte sich dann aber an mich. »Hast du je von Morozows Herde gehört, Alina?«
»Sie hat ganz sicher davon gehört. Genau wie von Einhörnern oder den Drachen der Shu-Han«, spottete Baghra.
Ein wütender Ausdruck überflog das Gesicht des Dunklen, aber er riss sich zusammen. »Darf ich kurz mit dir sprechen, Alina?«, fragte er höflich.
»Aber ⦠natürlich«, stotterte ich.
Baghra schnaubte wieder, aber der Dunkle beachtete sie nicht und führte mich aus der Hütte. Er schloss die Tür hinter uns, und nachdem wir ein kleines Stück gegangen waren, stieà er einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich wieder mit den Händen durchs Haar. »Dieses Weib«, murmelte er.
Ich musste die Lippen aufeinanderpressen, um
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