Grischa: Goldene Flammen

vertrauen«, sagte er.
    Was sollte ich darauf erwidern? Genau genommen hatte ich keine Wahl. Wenn der Dunkle von mir verlangte, mich in Geduld zu üben, dann würde ich das tun. »Gut«, sagte ich schließlich. »Aber beeilt Euch.«
    Er lachte wieder und ich spürte, wie sich meine Wangen freudig röteten. Dann wurde seine Miene ernst. »Ich habe sehr lange auf dich gewartet, Alina«, sagte er. »Gemeinsam werden wir die Welt verändern.«
    Ich lachte unsicher. »Ich bin ganz bestimmt kein Mensch, der die Welt verändert.«
    Â»Abwarten«, sagte er leise und als er mich aus seinen schiefergrauen Augen ansah, tat mein Herz einen kleinen Satz. Ich erwartete, dass er noch etwas hinzufügte, aber er wirkte plötzlich beunruhigt und trat von mir zurück. »Viel Erfolg bei deinem Unterricht«, sagte er. Dann verneigte er sich kurz, machte auf dem Hacken kehrt und ging über den Pfad zum Ufer davon. Nach wenigen Schritten drehte er sich noch einmal nach mir um. »Alina«, sagte er. »Was den Hirsch betrifft …«
    Â»Ja?«
    Â»Bitte behalt es für dich. Die meisten Menschen glauben, dass es ein Ammenmärchen ist, und ich möchte mich nur ungern zum Narren machen.«
    Â»Ich werde schweigen«, versprach ich.
    Er nickte und ging ohne ein weiteres Wort davon. Ich blickte ihm lange nach und fühlte mich aus einem rätselhaften Grund leicht benommen.
    Als ich mich wieder zu Baghras Hütte umdrehte, stand sie an der Schwelle und musterte mich mit unbewegter Miene. Ich wurde knallrot, obwohl es dazu keinen Anlass gab.
    Â»Pah«, schnaubte sie, und dann kehrte sie mir auch den Rücken zu.
    Nach meinem Gespräch mit dem Dunklen suchte ich bei der ersten Gelegenheit die Bibliothek auf. Der Hirsch wurde in keinem theoretischen Werk erwähnt, aber ich fand einen Hinweis auf Ilja Morozow, einen der ersten und mächtigsten Grischa.
    Außerdem gab es viel Literatur über Kräftemehrer. Aus den Büchern ging eindeutig hervor, dass ein Grischa nur einen einzigen Kräftemehrer besitzen durfte, der außerdem nicht auf andere Grischa übertragbar war: »Der Grischa nimmt den Kräftemehrer in Besitz, aber der Kräftemehrer nimmt auch den Grischa in Besitz. Nachdem dies geschehen ist, kann es keinen anderen mehr geben. Gleiches gesellt sich zu Gleichem, und damit ist der Bund geschmiedet.«
    Ich verstand nicht ganz, warum das so war, aber es schien nicht zuletzt darum zu gehen, die Macht eines einzelnen Grischa zu beschränken.
    Â»Das Pferd ist schnell. Der Bär ist stark. Der Vogel kann fliegen. Kein Geschöpf besitzt alle diese Fähigkeiten auf einmal, und so wird die Welt im Gleichgewicht gehalten. Kräftemehrer untergraben dieses Gleichgewicht nicht, sondern sind ein Teil davon. Dessen sollte sich jeder Grischa bewusst sein – oder er muss die Folgen auf sich nehmen.«
    Ein anderer Philosoph schrieb: »Warum kann ein Grischa nur einen Kräftemehrer besitzen? Ich will stattdessen folgende Frage beanworten: Was ist unendlich? Das Universum und die Gier des Menschen.«
    Unter der Glaskuppel der Bibliothek sitzend, dachte ich an den Schwarzen Ketzer. Der Dunkle hatte gesagt, die Schattenflur sei das Ergebnis der Gier seines Vorfahren. War es das, was die Philosophen mit »Folgen« meinten? Mir kam plötzlich der Gedanke, dass die Schattenflur der einzige Ort war, an dem der Dunkle seine Ohnmacht spürte, an dem seine Macht keine Bedeutung mehr hatte. Die Nachkommen des Schwarzen Ketzers hatten für dessen Ehrgeiz büßen müssen. Trotzdem konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass ganz Rawka mit Blut dafür hatte bezahlen müssen.
    Der Herbst ging in den Winter über und kalte Winde fegten das Laub von den Bäumen im Palastgarten. Aber auf unserem Tisch standen weiter Obst und frische Blumen aus den Gewächshäusern, in denen die Grischa für ihr eigenes Wetter sorgten. Leider steigerten weder saftige Pflaumen noch rote Trauben meinen Appetit.
    Ich hatte mir eingebildet, dass mein Gespräch mit dem Dunklen irgendetwas in meinem Inneren verändert hätte. Ich wollte an seine Worte glauben, und neulich, am Seeufer, hatte ich auch fast daran geglaubt. Doch alles blieb beim Alten. Ich konnte meine Macht immer noch nicht ohne Baghras Hilfe aufrufen. Ich war immer noch keine wahre Grischa.
    Immerhin war mir nicht mehr so elend zu Mute. Der Dunkle hatte mich um