Grischa: Goldene Flammen
hegt?
Ich schüttelte diesen Gedanken ab und versuchte daran zu denken, was mir am nächsten Tag bevorstand, auf welchen Wegen ich am sichersten nach Westen gelangen konnte. Ich wollte an alles Mögliche denken, nur nicht an seine schiefergrauen Augen.
Am nächsten und übernächsten Tag blieb ich auf dem Vy, mischte mich unauffällig in den Verkehr von und nach Os Alta. Doch ich wusste, dass Baghra mir nicht endlos viel Zeit verschaffen konnte und dass die HauptstraÃen auf Dauer zu riskant für mich waren. Deshalb bog ich bald ab und lief über die Felder und durch die Wälder, wanderte auf den Pfaden der Bauern und Jäger. Ich kam nur langsam voran. Meine Beine taten weh und ich hatte Blasen an den Zehen, marschierte aber weiter nach Westen, wobei ich mich am Stand der Sonne orientierte.
Nachts zog ich die Pelzmütze tief über beide Ohren, hüllte mich zitternd in den Mantel, lauschte dem Knurren meines Magens und zeichnete im Kopf jene bebilderten Landkarten nach, an denen ich vor langer Zeit im gemütlichen Dokumentenzelt gearbeitet hatte. Ich malte mir meinen langsamen Weg von Os Alta nach Balakirew aus, vorbei an kleinen Dörfern wie Tschernitsin, Kerskij und Polwost, und versuchte den Mut nicht zu verlieren. Bis zur Schattenflur war es noch weit, aber ich hatte keine Wahl, ich musste weiterziehen und darauf setzen, dass mir das Glück gewogen blieb.
»Immerhin lebst du noch«, sagte ich im Dunkeln leise zu mir selbst. »Immerhin bist du noch frei.«
Manchmal lief ich Bauern oder Reisenden über den Weg. Ich trug vorsichtshalber meine Handschuhe, und mein Messer war immer griffbereit, aber niemand beachtete mich. Der Hunger war mein ständiger Begleiter. Da ich eine lausige Jägerin war, zehrte ich von dem bisschen Proviant, den ich in Balakirew gekauft hatte, trank aus Bächen und stahl ab und zu Eier oder Ãpfel von einsamen Bauernhöfen.
Ich wusste nicht, was mich nach dieser beschwerlichen Reise erwartete und was die Zukunft für mich bereithielt. Trotzdem verzweifelte ich nicht. Ich war immer einsam gewesen, aber nie wirklich allein. Doch wie sich zeigte, war das Alleinsein weniger schlimm als befürchtet.
Als ich eines Vormittags eine winzige, weià getünchte Kirche erreichte, konnte ich nicht widerstehen und trat ein, um der Messe beizuwohnen. Der Priester betete zum Abschluss für seine Gemeinde: für den im Krieg verwundeten Sohn einer Frau, für einen fieberkranken Säugling, für die Gesundheit Alina Starkowas. Ich zuckte zusammen.
»Mögen die Heiligen die Sonnenkriegerin beschützen«, rief der Priester weihevoll. »Sie, die uns gesandt wurde, um uns von dem Bösen der Schattenflur zu erlösen und diese Nation wieder zu vereinen.«
Ich musste schlucken und floh geduckt aus der Kirche. Jetzt beten sie schon für dich, dachte ich benommen. Aber wenn der Dunkle sein Ziel erreicht, werden sie dich hassen. Und das wäre vielleicht gut so, denn im Grunde lieà ich Rawka und all jene Menschen im Stich, die an mich glaubten. Die Schattenflur konnte nur mit Hilfe meiner Macht vernichtet werden â aber ich lief davon.
Ich schüttelte diese Zweifel ab. Solche Gedanken durfte ich nicht zulassen. Ich war eine Verräterin und ich war auf der Flucht. Ãber Rawkas Zukunft konnte ich erst nachdenken, wenn ich dem Dunklen entkommen war.
Ich tauchte so rasch wie möglich in einem nahen Wald unter. Während ich einen Hügel erklomm, saà mir der Klang der Kirchenglocken im Nacken.
Als ich mir die Landkarte vor Augen führte, wurde mir bewusst, dass Rjewost nicht mehr weit weg war. Dort musste ich mich für einen der Wege zur Schattenflur entscheiden. Ich konnte entweder dem Fluss folgen oder in Richtung Petrazoj weiterwandern, des Gebirges im Nordwesten. Der Weg am Fluss war leichter, führte aber durch dicht besiedelte Gegenden. Der Weg über das Gebirge war kürzer, aber viel beschwerlicher.
Ich blieb unschlüssig, bis ich zum Kreuzweg in Schura gelangte. Dort entschied ich mich für das Gebirge. Aber bevor ich dessen Ausläufer erreichte, musste ich noch in Rjewost haltmachen. Das war die gröÃte Stadt am Fluss und ein Abstecher dorthin wäre nicht ganz ungefährlich für mich. Andererseits konnte ich den Petrazoj nicht ohne Proviant, Zelt und Schlafmatte überqueren.
Nach den vielen einsamen Tagen war das lärmende Menschengewimmel in den StraÃen
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