Grischa: Goldene Flammen
hetzen. Hatte ich überhaupt eine Chance, die Schattenflur allein zu durchqueren? Und wenn ich es bis West-Rawka und dort an Bord der Verloren schaffte, was dann? Dann wäre ich allein in einem fremden Land, wo ich niemanden kannte und mich nicht verständigen konnte. In meinen Augen brannten Tränen und ich wischte sie wütend weg. Wenn ich einmal weinte, würde ich ganz bestimmt nicht mehr damit aufhören können.
Wir fuhren in den frühen Morgenstunden durch Os Alta und erreichten schlieÃlich den breiten, ungepflasterten Vy. Erst brach die Dämmerung an, dann der Tag. Manchmal schlief ich kurz, aber Furcht und Unbequemlichkeit hielten mich die meiste Zeit wach. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und ich begann in dem dicken Mantel zu schwitzen, als der Wagen zum Halten kam.
Ich riskierte einen Blick über die Seitenwand. Wir standen hinter einem Gebäude, das wie eine Herberge oder Schenke aussah.
Ich streckte die Beine aus. Meine FüÃe waren eingeschlafen und ich biss die Zähne zusammen, als das Blut schmerzhaft in meine Zehen zurückströmte. Erst nachdem der Kutscher und die Schauspieler im Haus verschwunden waren, kroch ich aus meinem Versteck.
Wenn ich mich davongeschlichen hätte, wäre vielleicht jemand aufmerksam geworden. Deshalb ging ich aufrecht und mit festen Schritten um das Gebäude und mischte mich unter die Menschen und Karren, die auf der HauptstraÃe des Ortes unterwegs waren.
Nachdem ich ein paar Gespräche belauscht hatte, begriff ich, dass ich in Balakirew war, einer Kleinstadt westlich von Os Alta. Ich hatte ausnahmsweise Glück gehabt, denn es war die richtige Richtung.
Während der Fahrt hatte ich das Geld gezählt, das Baghra mir gegeben hatte, und versucht einen Plan zu schmieden. Zu Pferd würde ich am schnellsten ans Ziel kommen, aber mir war bewusst, dass ein Mädchen, das allein reiste und genug Geld für den Kauf eines Pferdes besaÃ, Misstrauen geweckt hätte. Also musste ich ein Pferd stehlen. Da ich nicht wusste, wie ich das anstellen sollte, zog ich vorerst zu Fuà weiter.
Vor dem Verlassen der Stadt kaufte ich auf dem Markt einen Vorrat an Hartkäse, Brot und Trockenfleisch.
»Hungrig, was?«, fragte der alte, zahnlose Verkäufer und musterte mich etwas zu genau, während ich den Proviant in meinen Beutel stopfte.
»Ich nicht so, aber mein Bruder. Er kann nicht genug kriegen«, antwortete ich und tat so, als würde ich jemandem in der Menge winken. »Ich komme!«, rief ich und eilte davon. Ich konnte nur hoffen, dass er sich an eine junge Frau erinnern würde, die mit ihrer Familie unterwegs gewesen war, oder dass er mich â besser noch â ganz vergaÃ.
In jener Nacht schlief ich im Stall eines Milchbauern, nicht weit vom Vy. Das Heu war zwar nicht zu vergleichen mit meinem herrlichen Bett im Kleinen Palast, aber ich war dankbar für das Dach über dem Kopf und die Geräusche der Tiere. Das leise Muhen und Rascheln der Kühe gab mir das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Ich rollte mich auf die Seite und bettete den Kopf auf Beutel und Pelzmütze.
Und wenn Baghra sich irrt?, fragte ich mich besorgt. Wenn sie gelogen hatte oder tatsächlich verrückt war? Ich konnte immer noch zum Kleinen Palast zurückkehren, wieder in meinem Bett schlafen, den Unterricht bei Botkin aufnehmen und mit Genja plaudern. Ein verlockender Gedanke. Würde der Dunkle mir meinen Fluchtversuch vergeben?
Mir vergeben? Was dachte ich da? Er wollte mir eine Kette um den Hals legen und mich zu seiner Sklavin machen, und ich zerbrach mir den Kopf darüber, ob er mir vielleicht vergab? Ich war wütend auf mich selbst und drehte mich auf die andere Seite.
Im tiefsten Inneren wusste ich, dass Baghra Recht hatte. Ich erinnerte mich an meine Worte zu Maljen: Wir alle gehören ihm. Das hatte ich zornig und gedankenlos gesagt, um Maljen zu kränken. Aber es traf genauso zu wie Baghras Worte. Ich wusste, dass der Dunkle gefährlich und skrupellos war, aber ich hatte diese Tatsache verdrängt und stattdessen lieber in der Vorstellung von meiner herrlichen Zukunft geschwelgt. Der Gedanke, dazu auserwählt zu sein, an seiner Seite zu stehen, hatte mich mit Begeisterung erfüllt.
Warum gestehst du dir nicht ein, dass du den Wunsch hattest, ihm zu gehören?, fragte eine Stimme in meinem Kopf. Wieso gibst du nicht zu, dass ein Teil von dir diesen Wunsch immer noch
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