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Größenwahn

Größenwahn

Titel: Größenwahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
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Marylebone, der Hauptavenue zum Regents Park, bildet eine Zweigader von Tottenham Court Road, dieser Pulsader des Krämerverkehrs oder, derber ausgedrückt, diesem Rinnstein des hauptstädtischen Schmutzes. Die beiden durch ihre üblen Ausdünstungen berüchtigten Stationen Euston- und Gowerstreet Station verpesten von zwei Seiten her die Atmosphäre, die Tramways und drei Omnibuslinien kreuzen sich und eine schmutzige aufgeregte Menschenmasse wälzt sich von hier nach Pentonville und City Road hinauf. Rechts schleppte ein Fleischerknecht einen über und über mit Blut bespritzten Bengel am Kragen über die Straße, den er beim Diebstahl dingfest gemacht (d.h. halb todtgeschlagen) hatte. Links schrie ein Antiquar nach dem Policeman, weil ein Bücherfreund mit geschicktem Griff einen »Roderick Random« von den ausgelegten Büchern entwendete. Leider war der Policeman eben beschäftigt, einen aufgeregten Japanesen zu beschwichtigen, dem ein frecher »Austernjunge« anzügliche Bemerkungen über seinen Zopf nachgekichert hatte.
    Rother passirte Gowerstreet und sah eine Menge Neger in weißen Halsbinden nach University College hinaufeilen und auf der andern Seite mehrere Sieche nach University Hospital hinaufbefördern. Die respektable Stille der großen Boarding House-Straße beruhigte ihn etwas, bis er, von dem unerträglichen Geruch von Bloomsbury Street begrüßt, Oxford Street in seiner vollen Glorie vor sich liegen sah. Er hätte die Straße passiren müssen – aber das gegenüberliegende Labyrinth der ehemaligen Rookery St. Giles erfüllte ihn mit ahnungsvollem Schauder. So trieb er denn willenlos mit dem Strom High Holborn hinunter, aus dem Gebiet der Modeläden in das Revier der großen »Ausverkäufer«. Auf Holborn Viadukt angelangt, hatte er schon zwanzig Püffe davongetragen, weil er sich nicht daran gewöhnen konnte, im Zuge auf der rechten Seite zu marschiren. Das nachdrückliche »
On the right hand, Sir!
« war einmal von einem so grimmigen »
God damn your eyes!
« begleitet, daß Rother nur zu wohl bemerkte, er befinde sich keineswegs in einer altenglischen Puritanerstadt, wo Schwören als Gipfel der Sünde gilt.
    Schwindelnd lehnte er sich an das Brückengeländer und starrte von oben in den belebten Farrington Road hinab, der rechts unten in Blakfriars Bridge mündet. Dort die Themse mit hundert Booten und Dampfern, das Menschengewimmel auf Brücken und Straßen – und über alle Dächer hin hier oben der ungeheure nie endende Marsch nach der City! London, bekanntlich ganz auf Hügeln gebaut, senkt sich hier plötzlich hinab, weswegen das Wunderwerk des Riesenviadukts mitten über die Straße weg gelegt wurde, so daß hier in der That zwei Städte über einander stehen.
    So schreitet hier Eins über das Andre fort, so wirbelt Alles durcheinander mit nie stockender Schnelligkeit, ein Rad der Maschine greift in das andre, und ein verschrumpelter abgebrauchter verbogener Stift wie ein gewisser Weltverbesserer Eduard Rother – was nützt er hier? Er wird zur Seite geworfen. Dort ist die Themse – das ist der Abort für verbrauchtes Material.
    Starre nicht so gründlich nach der Themse hinüber, mein Lieber. Studire auch nicht die Straßen da unten. Wer zu lange in Wasserfälle starrt, fällt oft kopfüber hinein. Neulich besah sich ein Bürger vom London Monument aus den Höllenstrudel unter sich und London Bridge schien ihm so einladend, daß er vor lauter Verwirrung und Schwindel gemüthlich von der Säulenspitze herunterfiel und in kleinen Atomen unten anlangte – unstreitig die einfachste Manier, um den Daseinsschwindel los zu werden, ein großartiges Verständniß und Bekenntniß der oben erläuterten Stift-Theorie.
    Da drüben ragen durch den Nebel die Mastspitzen über und hinter den Häuserreihen schwankt das Takelwerk der in den Docks gebetteten Kauffartheischiffe. Das ist die Welt, die große Welt, der Ocean, von dem der Londoner Menschenocean ein Spiegelbild. Alles regt und rührt sich, der Sturm braust und die Wellen branden, zerschlagen die Lebensschiffe und ertränken die Schwimmer – wozu wären sie sonst Wellen? Die wenigen Leuchtthürme und Riffe halten's noch aus – aber die schwachen Kähne kentert der erste Windstoß.
    Rother schauderte. Er eilte die düstere Newgatestreet hinauf; eine Glocke läutete. Schon in Euston Road hatte ihn eine Glocke gerührt; es war die Glocke des Magdalenenstifts in Marylebone. Hier aber hatte die Glocke einen düstern wehvollen Klang: es war die

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