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Größenwahn

Größenwahn

Titel: Größenwahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
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Todtenglocke in St. Sepulchre's Church, denn in Newgate Prison wurde ein Mörder hingerichtet. Aber gleichgültig, kalt und ruhig wälzten sich die Massen vorüber, kaum daß Einer horchend das Haupt erhob – wen interessirt das Schicksal des Einzelmenschen? Weiter, weiter!
    Auch Rother horchte nicht mehr, sondern schritt stumpf und taub vorwärts. Und, was er erlauscht hatte, war Mißklang: Die menschliche Sünde, das menschliche Weh, und die lieblose Härte der Welt. Hätte er besser zu lauschen verstanden, so wären ihm diese zwei Glocken wie Engelstimmen erklungen, wie zwei Genien der Menschenseele, aufsteigend über dem Qualm und Schmutz der Gesellschaft: Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.
    Er war an Peels Standbild angelangt; da ward's ihm zu viel.
    London scheint mit einer so lächerlichen Geschmacklosigkeit und cynischen Verachtung des Aeußern gebaut, daß diese Unförmlichkeit abstoßend wirken müßte, wäre sie nicht so imposant. Die Dinge sind hier durcheinandergewürfelt und aufeinandergethürmt. Die Stadt gleicht jenen riesenhaften Ruinen der Vorzeit, Ninive, Babylon, Luxor, bei denen man jetzt eine thurmhohe Sphinx, einen Fels in Portraitform, hängende Gärten und Riesenmauern langweilig und zusammenhangslos durcheinandergeschüttelt und -gepurzelt sieht.
    Newgatestreet endet in einem Winkelmarkt und plötzlich öffnet sich gradaus die großartigste Handelsstraße der Welt, Cheapside, diese ewige Beresinabrücke. Und rechter Hand an ein paar elenden kleinen Häusern ist eine Art Durchbruch gelegt. Dort stehn drei knallgrüne Bäume; über sie und die Dächer weg hängt schläfrig die Riesenkuppel von St. Pauls – so daß man unwillkürlich fürchtet: Wenn dieser Dom mal über Cheapside zusammenschlüge! Als wäre die Peterskirche vor eine halb abgetragene Lehmmauer placirt, an der ein paar Maurer herumfaullenzen.
    Aber was kümmert das London, ob der Fremde den Dom in guter Aussicht sehen möchte! Für das Schöne hat man hier keine Zeit.
    Rother spielte nicht mehr mit. Er wagte die schüchterne Frage an einen Policeman (da man ihm wie gewöhnlich die Lüge eingeprägt hatte, daß jeder auf eine Anfrage antwortende Londoner ein Spitzbube sei), wo Tavistock Tavern liege. Lächelnd berichtigte ihn der Mann, da sei er hübsch vom Wege abgekommen, miethete ihm ein Cab – und fortrasselte der erschöpfte Wandrer.
    Wie geistesabwesend starrte er in das sich stauende Wagengewühl, welches London Bridge nach dem Westend zurückwarf. Ein eigenthümliches Grauen befiel ihn.
     
    Er wollte sich gleich mit eins an die englische Küche gewöhnen. So aß er denn nach der Mok Turtle Suppe zu viel Beef und dann zu viel Fisch und stürzte zwei Krüge des bittern Ale herunter. Das konnte sein vergrämter Magen nicht vertragen, und als er die Treppe zu seiner Stube emporstieg, mußte er ein Rührstück von Kotzebue aufführen. Nun war für heute sein Entschluß, Krastinik aufzusuchen zerstört. Man redet viel von Willenskraft, doch die hängt ab vom Magensaft.
    Es giebt Augenblicke, wo die widerlichen kleinen Fatalitäten des täglichen Lebens für den Geist unerträglich werden. Rother erwachte mit einem Gefühl wahnsinnigen Hasses – gegen wen und warum? Er wußte es kaum. Er empfand ein Gefühl des Erstickens, als ob sich kalte Hände um seinen Hals krampften, und zugleich quoll ihm eine irrsinnige Wuth bis zum Munde, als wolle er bersten vor verzweifelter Wuth. Könnte man doch das ewig Unsichtbare, den unsichtbaren Würger, mit beiden Fäusten packen und es schütteln und würgen und ihm ins grausame Gesicht schreien: Warum würgst Du mich langsam und pressest mir den Athem aus?
    Er ermannte sich jedoch wirklich und fuhr nach Scotland Yard, der Central-Polizeistation, wo man ihm nach endlosem Radebrechen und Nachforschen richtig die Adresse Krastiniks angab. Allein für heute wagte er noch nicht, die Angelegenheit zu unternehmen.
    Er irrte den Tag über in der Stadt umher, lunchte im South Kensington Museum, wo ein biedrer Schweizer sein gutes Deutsch benutzte, um ihm beim »
joint of beaf
« den doppelten Preis unter einer geschmackvollen Ausrede abzufordern, und nahm in der City sein abendliches Dinner ein. Das Salmon-Steak und die Cotellets frisch vom Roste her hoben seine Lebensgeister endlich wieder und so schwamm er denn durch die hellerleuchteten Straßen langsam weiter, indem er sich behaglich von den Wogen des Menschenmeeres umherschlendern ließ. Unkundig des Weges, verirrte er sich in Gegenden, wo er

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