Größenwahn
zurechtzurütteln.
Oft langte er zu spät an, da nach 8 Uhr dort nichts Warmes mehr zu bekommen, und mußte sich mit Ueberbleibseln begnügen. Oder er wanderte wieder ins Westend zurück, um in einer Conditorei (wie man dies nur in England kennt) ein französisches Ragout oder die üblichen Hammelrippchen zu bestellen. Seine unnatürliche Lebensweise verschlimmerte sich derartig, obschon er nur selten vom Theater oder aus Gesellschaften heimkehrte, daß er manchmal erst gegen 11 Uhr Nachts, ja noch später, sein »Mittagsbrot« einnahm. Er magerte sichtlich ab und Dorrington, der sich wiederholt bemühte, ihn seinem Einsiedlerleben zu entreißen, erschrak jedesmal, wenn er ihn wiedersah.
Jede Nacht genoß der Graf beim Heimkehren das Vergnügen, am Belgrave Road durch eine Kette von Nachtwandlerinnen, welche die ganze Breite des Weges sperrten, der Freiheit eine Gasse zu brechen. Auch wußte er einzelne handgreifliche Verehrerinnen abweisen, die mit ihrer gewöhnlichen Angriffstaktik den krummen Griff ihres Regenschirms in seiner Achselhöhle festhakten. Er aber schritt, unangefochten von fleischlichen Regungen, in einsamer Majestät durch all den Schmutz hindurch, halb erhaben halb lächerlich, ein Ritter von der traurigen Gestalt.
Bis um Mitternacht geschlossen wurde, irrte er im Hyde Park oder St. James' Park hin und her. Der Regen sickerte durch Moos, Farnkräuter und tropische Gewächse. Das silberne Boot des Mondes durchfurchte die Wolken, die sich burgähnlich in zackigen Umrissen am trüben Horizonte ballten. Die Giebel von Bukingham Palace umwob der nächtige Trauerflor. Im melancholischen Wasser spiegelten sich spukhaft die Sterne. Auf den sammetweichen Wiesen, deren Smaragdgrün der funkelnde Morgenthau des Frühlings wie mit Demanten besät, wo Hammelheerden behaglich wiederkäuend geweidet, wo ihm oft das sonnenstaubdurchrieselte Laub der Eichen ein rosiges Antlitz mit goldigem Haar als englisches Ideal seiner Träume heraufgezaubert hatte – dort lagerten jetzt über geschmolzenem Schnee schwarz und schwer immer tiefere Schatten.
Bleierne Müdigkeit lastete auf dem Einsamen. Manchmal fuhren seine Finger über sein bleiches vornehmes Gesicht in seltsam mechanischem Takt – dann war ihm, als ob er träume, als ob er sein vergangenes nutzloses Leben nur geträumt. War er Kavalier, Dandy, Offizier gewesen? War er nicht stets ein einsamer Grübler wie jetzt, ein verkappter Dichterdenker incognito? Immer verhaßter wurde ihm sein bisheriges Leben – sollte er in dasselbe zurückkehren, wenn sein Urlaub abgelaufen? Konnte er das noch, selbst wenn er wollte? Aber was dann! Vermögen hatte er ja nicht, ein jüngerer Sohn. Wovon leben! Er hatte sich von seiner Appanage soviel zusammengespart, um diese Reise machen zu können. Davon konnte er vielleicht noch bis Herbst hier leben. Sein Urlaub, den er auf unbestimmte Zeit »gesundheitshalber« genommen, um dessen Verlängerung er erfolgreich eingekommen war, gestattete ihm das. Aber was dann!
Er schien sich der Beklagenswertheste der Menschen. Als ihn einmal eine Nachtwandlerin, die am Park-Laue entlang pirschte, manierlich und ohne Zudringlichkeit fragte, was die Uhr sei – vielleicht, um einen Austausch schöner Seelen anzuknüpfen, vielleicht auch nicht – herrschte er sie, aus seinen Gedanken aufgestört, an: »Was geht Sie die Uhr an bei Ihrem Handwerk? Geh und arbeite!« Die Frau wich zaghaft zurück und murmelte: »Bitt' um Verzeihung!« Dann seufzte sie, kaum hörbar, indem sie sich abwandte: »Arbeite! Gebt mir Arbeit!« Krastinik, der arme Edelmann, dessen übermäßig hohe Trinkgelder allen Kellnern den »Grafen« verrathen sollten, stutzte. Der Kavalier fühlte sich getroffen. Dann eilte er der »
infortunate lady
« (wie die Engländer es taktvoll nennen) nach und drückte ihr, ohne zu sprechen, eine halbe Krone in die Hand. Jaja, wie oft sprachen ihn nicht Greisinnen, welche Zündholzschachteln in den Bar-Rooms verkauften, auf sein nobles Gesicht hin an und murmelten dazu mit der eigenthümlichen ruhigen Anständigkeit, welche man in England so oft beim niedersten Volke bewundert, ihr Busineß-Sprüchlein: Sie hätten zwei Tage nichts gegessen. – Doch der vornehme Herr fühlte sich unglücklicher als sie Alle! »Gebt mir Arbeit!« hallte es in ihm wieder. Arbeit, die keine standesgemäße Sclaverei, Arbeit für meinen erwachten Geist. »Geh und arbeite!« Sich selbst mußte er das zurufen. Sollte er länger verschmachten in thatlosem
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