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Größenwahn

Größenwahn

Titel: Größenwahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
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als Realisten preisen, die keine sind!«
    »Ach, nicht davon droht uns Gefahr, sondern ganz wo anders her. Unsere Schulmeister-Aesthetik, die ja stets mit dem Strome schwimmt, fängt an, sich des siegreichen Realismus zu bemächtigen. Nun geht das automatische Einschachteln los, ob dies echter oder das unechter Realismus sei. Es tauchen schon weise Großväter auf, die aus der Weisheit güldner Wolke erhabene Sprüche tönen lassen, um das trockene Studium der Naturwissenschaften als obligatorisch zu empfehlen. Als ob man vom Componisten verlangen möchte, er müsse den Vorlesungen voll Helmholtz über die Schallwellen beiwohnen! Eine neue Abart der Philister-Pedanterie! Nächstens wird noch ein realistischer Aesthetiker die Höhere Mathematik für Berechnung der Zufallsmöglichkeiten den Romanschreibern empfehlen! Daß der Dichter die Bildung seiner Zeit umfassen solle, bestreite ich nicht. Doch dürfte Kenntniß der historischen und litterarhistorischen Entwickelung denn doch dem naturwissenschaftlichen Studium weit vorzuziehen sein. Wer alle Wunder der Physik und Chemie beherrscht, aber von Weltgeschichte und Weltlitteratur nur oberflächliche Kunde erhielt, bleibt ewig ein ungebildeter Mensch – nicht aber umgekehrt.«
    »Sehr wahr,« brummte Schmoller mit vieler Befriedigung. »Weiß ich etwa 'was? Wie? Gar nichts, he?« Leonhart nickte zustimmend, indem er ein Lächeln unterdrückte. »Und doch bin ich Karl Schmoller. Das Leben muß man kennen, siehst de woll!«
    »Natürlich. Die Wissenschaftlichkeit ist der Tod der Poesie und lockt keinen Hund vom Ofen. Solche zusammenspintisirten greisenhaften Experimentalromane wie Goethe's ›Wahlverwandtschaften‹ fußen auf wissenschaftlicher Grundlage – und mißlingen doch. Hingegen, als Goethe sich die Werther-Krankheit vom Leibe schrieb, da zeigte er uns den richtigen Weg. Man muß seine Dichtung gleichsam mit erleben; dankt erst bildet sich etwas Lebenswahres.«
    »Ja wohl,« fiel Schmoller ein. »Darum verweben alle großen Schriftsteller ihre Erlebnisse auf oft kaum merkliche Weise in ihre Erfindungen. So z.B. habe ich ...«
    »Allerdings,« unterbrach ihn Leonhart, »ist der hohe Lohn der absoluten Lebenswahrheit nur um den Preis einer schonungslos in den eignen Eingeweiden wühlenden Arbeit zu erringen. Aus diesem Grunde sind all die guten Rathschläge und Empfehlungen naturwissenschaftlicher Studien und gelehrter Experimentalmethode in hohem Grade unwissenschaftlich d.h. unwissend über den psychologischen Prozeß der wahren Dichtung, dieses nur dem Dichterdenker erschlossenen Räthsels. – Das echte Poeten-Ingenium beobachtet, fühlt und denkt einfach schärfer, tiefer und schneller, als die Durchschnittsmenschen, seien diese nun wissenschaftlich oder unwissenschaftlich. Es besitzt tausend unentdeckbare Saugfäden, mit denen es gleichsam naiv-unbewußt und instinktiv alle Bildungselemente in sich saugt. Daher die vielen Momentphotographieen naturalistischer Beobachtung in den Werken großer Dichter, die z.B. den alten Homer zum echten Naturalisten stempeln.«
    »Jaja, Du docirst heut wieder einen schönen Stiebel zusammen,« gähnte Schmoller, der von der ganzen Auseinandersetzung, bei seiner verblüffenden Stumpfheit allem Theoretischen und Abstrakten gegenüber, kein Wort verstanden hatte. »Kurzum, ein wahrer Dichter ist ein großer Realist.«
    »Aber nicht jeder große Realist ist ein Dichter,« wendete Leonhart ein. »Ein wahrer Dichter ist auch ein Realist, weil er ein Dichter ist. Aber Realismus ohne Poesie ist gar keine Poesie. Realismus ist kein Zauberwort, das feuilletonistisch-schriftstellerische Anlagen zu dichterischer Anschauung ummodelt. Man ist entweder ein Dichter oder man ist es nicht. Ob man die Jungfrau von Orleans oder eine Demimondaine schildert, ist dabei gleichgültig. Beides soll man lebenswahr schildern – nicht wie Schiller's Jungfrau oder Dumas' Kameliendame. Aber das ›Realistische‹ kommt doch immer erst in zweiter Linie – die Hauptsache ist, daß etwas bedeutend sei.« Er machte sich auf den Heimweg.
    Irgend Etwas in diesen Bemerkungen mußte wohl auf Schmoller als unbewußt anzüglich gewirkt haben. Wenigstens äußerte er nachher zu Ambrosius Sagusch, den er gleich darauf im »Café Keck« traf, (wo dieser Sokrates eine Phryne väterlich liebkoste und zur Xanthippe umwandelte, da er sie hinterher nicht »frei hielt«) –:
    »Ein ganz begabter kleiner Mensch, dieser Leonhart. Wenigstens als Lyriker ist er ganz

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