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Gromek - Die Moral des Toetens

Gromek - Die Moral des Toetens

Titel: Gromek - Die Moral des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lutz
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Platz noch nicht erreicht. Sie arbeitete sich langsam nach
vorn, blieb einige Male stehen, um niemanden anzustoßen und so dessen
Aufmerksamkeit zu erregen, und stand schließlich nur wenige Schritte neben der
Witwe. Jeder, der ihr kondolieren wollte, würde an Lisa vorbeigehen müssen.
    Aus ihrer Handtasche kramte sie den Lippenstift, der keiner war,
und zog die Kappe ab. Anschließend legte sie vorsichtig den Zeigefinger ihrer
rechten Hand auf den Sprühknopf. Sorgsam achtete sie darauf, ihren Finger nicht
zu weit vorzuschieben. Keinesfalls wollte sie sich selbst mit der darin
enthaltenen Flüssigkeit markieren, was eine spätere Verfolgung der Zielperson
unnötig erschwert hätte.
    Die Pfarrerin sprach das Gebet zu Ende und schüttete als erste
eine Handschaufel voll Erde auf den teuren Sarg, der kurz zuvor von vier
uniformierten Totengräbern herabgelassen worden war. Einer nach dem anderen tat
es ihr nach. Dann trat jeder der Trauergäste vor die schluchzende Witwe,
reichte ihr die Hand und kondolierte leise.
    »Zielperson nähert sich! Halten Sie sich zur Markierung bereit!«
    »Bin bereit.«
    Lisa hatte ihre Zielperson die ganze Zeit im Auge behalten. Dabei
hatte sie peinlich darauf geachtet, auf keinen Fall Blickkontakt mit ihm oder
einem seiner drei Leibwächter zu bekommen. Diese umringten den Mafiapaten auf
Tuchfühlung und wichen ihm nicht von der Seite. »Ihren Job machen sie wirklich
gut«, dachte Lisa mit einem Anflug von Respekt. Kein Wunder, dass sich ihre
Kollegen von der Observations-Sektion diese eher ungewöhnliche Art der Überwachung
hatten einfallen lassen.
     
    Michael Gromek war in der Zwischenzeit aus seinem Wagen gestiegen,
um den Friedhof seitlich zu umrunden und so unbemerkt von den Chauffeuren eine
Position einzunehmen, von der aus er sowohl Lisa als auch die Zufahrt zum
Parkplatz im Auge behalten konnte.
    Gromek genoss die angenehm ruhige Atmosphäre der Grünanlage, ohne
sie in irgendeiner Weise mit dem Tod zu verbinden. Er nahm an, dass die
Trauergäste es taten. Doch der Tod selbst, das hatte er nur zu oft erlebt, fand
woanders statt, nicht hier. Gromek fragte sich, was für ein Gefühl es sein
mochte, ihm nur auf ganz bestimmten begrenzten Arealen wie Seniorenheimen,
Krankenhäusern oder eben Friedhöfen zu begegnen und dieser Begegnung daher
praktisch ein Leben lang aus dem Weg gehen zu können. Wahrscheinlich, dachte
er, war diese Verdrängungskultur in keiner Weise wünschenswerter als sein
eigenes, durch dutzendfache Wiederholung geschärftes Bewusstsein für die
Allgegenwärtigkeit des Todes.
    Nachdenklich ließ Gromek seinen Blick über die Trauergemeinde
wandern, die wie eine Ansammlung schwarzer Schafe auf einer grünen Weide
beieinander standen. Seine Wahl war vor langer Zeit gefallen und er hatte kein
Bedürfnis, sie rückgängig zu machen. Er gehörte zu den Hütehunden. Und dennoch
- manchmal hätte er gern gewusst, wie es war, auf der anderen Seite zu stehen.
    Mit dem Fernglas vor den Augen war Gromek der erste, der die junge
Frau von seinem Versteck aus sah. Sie war von kleiner Statur und konnte noch
keine 20 Jahre alt sein. Ihre langen braunen Haare wehten wie eine dunkle Fahne
hinter ihr her und wippten bei jedem ihrer zügigen Schritte kräftig auf und ab.
    Ruppig drängelte sie sich durch die Reihen, wobei sie den einen
oder anderen Begräbnis-Teilnehmer unsanft zur Seite stieß. Als sie an dem Grab
angekommen war, blickte sie für einen Moment hinunter. Dann spuckte sie
verächtlich auf den Sarg. Mit einer heftigen Drehung ihres Körpers bewegte sie
sich auf die entsetzte Witwe zu und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.
    Einer der drei Leibwächter riss die junge Frau zu Boden und hielt
sie dort fest. Diese schrie und wehrte sich mit aller Kraft. Gegen den Mann, der
sie mit einem Arm festhielt und mit der anderen Hand seinen Revolver auf sie
richtete, hatte sie allerdings keine Chance. Seine beiden Kollegen zogen
unterdessen den Paten aus der Menge und strebten mit ihm zum Ausgang.
    »Folgen Sie der Zielperson! Folgen Sie der Zielperson! Sie müssen
die Markierung anbringen! Um jeden Preis!« ertönte die Stimme in Lisas
Kopfhörer.
    Beim Anblick der gezogenen Waffe geriet die Trauergemeinde in
Aufruhr. Ein Tumult brach aus, als die Leute versuchten, sich in Sicherheit zu bringen.
Für einen Moment war Lisa irritiert. Familienstreitigkeiten waren in der
kurzfristig geplanten Aktion nicht vorgesehen gewesen.
    »Wie soll ich denn jetzt noch unbemerkt an die

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