Gromek - Die Moral des Toetens
und hatte
sich so davor positioniert, dass er das Geschehen im Auge behalten konnte, ohne
selbst gesehen zu werden. Nun startete er den Wagen erneut.
Lisa hatte inzwischen eine halbwegs normale Sitzposition eingenommen.
Die Situation war ganz offensichtlich außer Kontrolle geraten, analysierte sie
still. Vorläufig befand sie sich in der Gewalt des Russen. Eine
Fluchtmöglichkeit bestand nur für den Fall, dass der Wagen irgendwann langsamer
wurde und sie bis dahin die noch immer abgeschlossene Beifahrertür öffnen
konnte. Ob und wann sich diese Bedingungen einstellen würden, war momentan
nicht abzusehen. Allerdings, dachte Lisa in einem Anflug von bitterem Optimismus,
könnte sie auch etwas nachhelfen. Mit beiden Händen griff sie ihrem Entführer
ins Steuer und versuchte, den Wagen von der Straße abzubringen. Doch der Volvo machte lediglich einen Schlenker, dann hatte der Leibwächter ihn wieder unter
Kontrolle. Er grollte etwas, packte Lisa an den Haaren, stieß ihren Kopf
zweimal kräftig gegen die Fensterscheibe der Beifahrertür und hatte ihre
hellblonde Perücke in der Hand. Einen Moment lang schaute er sie verwundert an,
dann ließ er sie fallen und konzentrierte sich wieder auf das Fahren.
Lisa fühlte sich benommen. Die Sonnenbrille hing ihr halb vor dem
Gesicht, ebenso die verbogene Kommunikationseinheit. In ihrem Kopf drehte sich
alles. Ihr war übel. Sie zuckte zurück, als Oleg nach dem feingliedrigen
Drahtgestell griff und es ihr mit einem schmerzhaften Ruck vom Kopf riss. Lisa
stöhnte - woraufhin Oleg ihr mit der flachen Hand ins Gesicht schlug, um sie
zum Schweigen zu bringen.
Sie erreichten den Rand der Innenstadt. Oleg hatte seine Waffe
gezogen. Fluchend drückte er das kalte Metall der Pistole aus russischer
Fabrikation an Lisas Schläfe, bis die Mündung einen runden Abdruck in ihrer
Haut hinterließ. Apathisch und mit blutender Nase starrte Lisa ins Leere. Sie
hatte sich noch nie in ihrem Leben so ausgeliefert und so hilflos gefühlt. Sie
hasste dieses Gefühl. Trotzdem durfte sie jetzt nichts Unüberlegtes tun.
Der Lieferwagen des Teams war durch den starken Verkehr weiter und
weiter zurückgefallen. Lisa brauchte sich nicht umzusehen. Ein Blick in Olegs
hämisch triumphierendes Gesicht sagte ihr alles, was sie wissen musste. Sie
hätte laut aufschreien mögen. Jetzt war sie tatsächlich auf sich allein
gestellt.
An einer belebten Kreuzung im Bezirk Kreuzberg musste der
Leibwächter anhalten. Die Ampel sprang auf rot. Vor, hinter und neben ihnen
kamen andere Wagen zum Halten. Niemand sah in ihre Richtung. Lisa fühlte sich
hundeelend. Da war sie mitten in Berlin, umgeben von Dutzenden anderer
Menschen, und keiner von ihnen bemerkte auch nur, dass sie dringend Hilfe
brauchte! Taub, stumm und blind schienen sie alle zu sein, bis auf diesen
einen, der neben ihr saß und sie mit dröhnender Stimme beschimpfte. Oleg nahm
die Waffe von ihrer Schläfe, ergriff sie mit der linken Hand und begann Lisa
mit der rechten zu schütteln. Der Wortschwall aus seinem Mund wechselte in ein
gebrochenes Deutsch. Ein feiner Speichelregen traf ihre linke Gesichtshälfte,
während er sie anbrüllte.
»Wer ist Auftraggeber? Wer? BKA? Oder scheiß Landeskriminalamt?
Dein Leute haben Sergej totgemacht! Sergej war wie Bruder für mich! Du reden,
sonst ich mache dich tot!«
Er ließ die Pistole wieder in seine rechte Hand gleiten und
richtete sie erneut auf Lisa.
Keiner von ihnen bemerkte den schwarzen BMW , der schräg
hinter dem Volvo zum Stehen gekommen war. Langsam und gleichmäßig fuhr
das Fenster auf der Beifahrerseite nach unten. Mit ausgestrecktem Arm richtete
Gromek die Glock auf sein Ziel.
Kurz hintereinander gab er zwei Schüsse ab.
Fast lautlos durchschlugen die Kugeln die Fensterscheibe des Volvos .
Winzige Splitter, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen waren, trafen Olegs
Nacken. Blut sickerte aus seinem Schädel, während der Kopf langsam auf das
Steuerrad sackte. Ein langgezogenes Stöhnen begleitete die Abwärtsbewegung,
dann war Oleg still.
Im selben Moment sprang die Ampel wieder auf Grün. Gromek fuhr an,
beschleunigte in einem Strom von anderen Wagen, bog bei der nächsten Gelegenheit
links ab und verschwand im dichter werdenden Verkehr der Innenstadt.
Lisa brauchte einen Moment, ehe sie begreifen konnte, was geschehen
war. Zusammengesunken saß der tote Russe neben ihr auf dem Fahrersitz. Seine
Rechte hing schlaff über der Handbremse. Die Pistole war zu Boden gefallen.
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