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Gromek - Die Moral des Toetens

Gromek - Die Moral des Toetens

Titel: Gromek - Die Moral des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lutz
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»Und wo ist er jetzt?«
    »Im besten Fall - auf dem Weg zu seinem nächsten Rendezvous«,
erwiderte Kilar. Aber überzeugt klang er nicht.

6 .  Entscheidung
     
    Es war auf die Minute halb acht. Wie schon zwei Tage zuvor, verließen
Lisa und ihre Kinder das Haus, um zur Schule zu fahren. Julia und Daniel waren
so unbekümmert und gutgelaunt wie an beinahe jedem Morgen. Ihre Mutter dagegen
hatte die halbe Nacht lang wach gelegen. Erst gegen drei Uhr morgens waren ihre
Gedanken zur Ruhe gekommen und hatten sie gnädig in einen wenig erholsamen Halbschlaf
entlassen.
    Es war der Rendezvous-Auftrag, der sie beschäftigte. Seit dem
Anruf aus der Zentrale von Sektion¬4 musste sie in jeder freien Minute
daran denken.
    In den Monaten zwischen ihrer Grundausbildung und Davids Ermordung
hatte sie vielleicht ein halbes Dutzend Rendezvous mit Spionen, Saboteuren und
wertlos gewordenen Doppelagenten aus diversen Ostblockstaaten absolviert. Doch
wie lange war das her?! Daniel würde in ein paar Monaten 13 werden. Nach so
langer Zeit kam es ihr absurd vor, auf Befehl einen Menschen zu töten. Einen
Menschen, den sie nicht kannte und von dem sie nicht wusste, was er getan
hatte. Nervös strich sie eine Falte aus ihrem schwarzen Kostüm.
    »Der Kalte Krieg ist, verdammt nochmal, vorbei!« fluchte sie in
Gedanken. Das ›Reich des Bösen‹, als das der ehemalige US-amerikanische
Präsident Ronald Reagan Russland in den 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts
einmal populistisch bezeichnet hatte, existierte nicht mehr.
    Gleichzeitig war Lisa klar, dass es keinen Sinn hatte, sich der
ihr gestellten Aufgabe zu verweigern. Bei ihrem Eintritt in die Sektion¬4 hatte sie sich mit Haut und Haaren der Behörde ausgeliefert. »Das ist ein Beruf
ohne Rückfahrkarte«, erinnerte sie sich an die wenig aufmunternden Worte, die
David einmal zu ihr gesagt hatte. Damals war ihr die Dimension dieses Satzes
entweder nicht bewusst gewesen oder sie hatte ihn leichtsinnigerweise verdrängt.
Heute ließ die Erkenntnis ihrer Ohnmacht eine verzweifelte Wut in ihr
aufsteigen, für die sie beim besten Willen kein Ventil finden konnte.
     
    Was Lisa und ihre Kinder nicht ahnten: An diesem Morgen hatten sie
einen Schatten. Michael Gromek beobachtete die drei aus seinem BMW heraus mit einem Fernglas, das kaum größer als ein Opernglas war. Während die
Kinder zur Heckklappe von Lisas weißem Cherokee liefen und ihre Schulranzen
mit Schwung in den Kofferraum flogen, nahm Gromek das Glas herunter, um die
grünlich-rosa schimmernde Oberfläche der Okulare mit einem Stofftaschentuch zu
reinigen. Dass diese Behandlung der aufgedampften Versiegelung nicht sonderlich
guttat, schien er entweder nicht zu wissen, oder es kümmerte ihn schlichtweg
nicht.
    Im Radio wurden die allmorgendlichen Staumeldungen verlesen. Lisa
fuhr los. Gromek schaltete das Radio ab und folgte ihr in großem Abstand.
     
    Nachdem Lisa ihre Kinder rechtzeitig an der Schule abgeliefert und
sich von beiden mit einem Kuss auf die Wange verabschiedet hatte, fuhr sie
weiter in Richtung Norden. Rund 30 Minuten später kam sie auf dem Parkplatz
eines Einkaufszentrums an, dessen Stellfläche amerikanische Ausmaße hatte. Sie
ließ ihren Jeep in der Nähe des Baumarktes stehen und begab sich zu einem
anderen, etwa 200 Meter entfernten Abschnitt. Dort stieg sie in einen älteren Volvo -Kombi,
der dicht vor dem Eingang des Garten-Centers geparkt war.
    Lisa startete den Wagen, setzte zurück und verließ den Parkplatz
auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen war.
    Gromek hatte keine Mühe, Lisa im Gewühl der Einkaufswagen
schiebenden Vormittagskunden des Einkaufsareals im Auge zu behalten. Er war alles
andere als überrascht. Schließlich hatte er diese Schutzmaßnahme im Lauf der
Jahre oft genug selbst angewendet.
     
    Auf dem mit Zigarettenstummeln und vertrocknetem Laub verschmutzten
Boden vor dem Beifahrersitz des Volvos fand Lisa eine Segeltuchtasche.
Bereits nach wenigen Augenblicken musste sie an einer Kreuzung halten, deren
Verkehrsampeln ausgefallen waren. Mehrere uniformierte Polizisten regelten den
Berufsverkehr. Hastig zerrte Lisa die Tasche hervor und öffnete den Reißverschluss.
Zum Vorschein kamen eine hellblonde Perücke mit Pagenschnitt und eine
Kommunikationseinheit sowie ein Gegenstand, der die Größe und Form eines
Lippenstifts hatte.
    Der Stau an der Kreuzung hatte sie zehn Minuten gekostet. Als Lisa
nach einer dreiviertel Stunde Fahrt auf den Parkplatz eines Friedhofs an

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