Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gromek - Die Moral des Toetens

Gromek - Die Moral des Toetens

Titel: Gromek - Die Moral des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lutz
Vom Netzwerk:
war ihr eigenes
Leben dabei ernsthaft bedroht worden. Erst auf dem Heimweg war ihr klar
geworden, was dieser Umstand für ihre Kinder hätte bedeuten können.
    »Warum habe ich mich damals eigentlich zurückstufen lassen?!« Lisa
unterdrückte einen Seufzer. »Das ist kein Job für jemanden, der Kinder hat«,
dachte sie bitter. Wer würde sich um Daniel und Julia kümmern, wenn sie nicht
mehr da war? Julias Vater etwa? »Wohl kaum«, beantwortete sie sich diese Frage
in Gedanken selbst.
    War sie angesichts dieser Umstände wirklich geeignet als Mutter?
Lisa fragte sich zum hundertsten Mal, ob es für Daniel und Julia nicht besser
gewesen wäre, in einer anderen Familie aufzuwachsen. Doch ihr Verstand allein war
nicht in der Lage, die quälende Frage zu beantworten.
    »Was ist ein Dompteur?« wollte Julia wissen.
    Daniel begann, seiner jüngeren Schwester ihren letzten Zirkusbesuch
in Erinnerung zu rufen. Aber noch ehe er bei den Löwen und Tigern angekommen
war, klingelte es an der Tür. Stumm schauten die Kinder ihrer Mutter zu, wie
sie ihr Schminkzeug zuklappte, es in eine Schublade räumte und einen letzten
prüfenden Blick in den Spiegel warf. Mit beiden Händen zog Lisa ihr apricotfarbenes
Kostüm straff und sah auf ihre filigrane, goldene Armbanduhr. Es war 19.45 Uhr.
Lisa schaltete das Badezimmer-Licht aus und drehte sich zu ihren Kindern. Ganz
plötzlich fühlte sie sich fremd und fehl am Platz. Die beiden hatten nicht die
geringste Ahnung, wo ihre Mutter an diesem Abend sein und was sie dort tun
würde. Was passieren mochte, wenn sie es erführen, daran wollte Lisa nicht
denken. Sie bemühte sich, fröhlich zu wirken:
    »Na, wie sehe ich aus?«
    »Super!« erklärte Julia bewundernd.
    »Naja, es geht so«, korrigierte Daniel mit abschätzendem Blick.
    Lisa war aufgefallen, dass ihr Sohn seit einiger Zeit mit seismischer
Genauigkeit auf emotionale Defizite innerhalb der Familie reagierte. Über kurz
oder lang würde sie ihm sagen müssen, dass es mit ihrer Ehe nicht zum Besten
stand und ihr eine Scheidung wahrscheinlich erschien. Oder hatte sie den
Zeitpunkt schon verpasst? Bei diesem Gedanken bekam sie ein schlechtes
Gewissen. Ihr wurde klar, dass sich in ihrem Leben etwas ändern musste. Denn
eines wusste sie genau: Eine Rabenmutter wollte sie nicht sein. Auf welche
Weise auch immer, sie musste eine Entscheidung herbeiführen, ehe Daniel kein
Kind mehr war, das sich von ihr leiten ließ. Bisher hatte er noch nicht
begonnen, sein eigenes Leben zu leben und vertraute ihr - noch - uneingeschränkt.
    Es klingelte ein zweites Mal an der Tür.
    »Na los«, rief Lisa. »Macht Jenny schon auf. Sie ist 16 Jahre alt
und hat furchtbaren Liebeskummer. Habt also etwas mehr Verständnis. Außerdem
finde ich sie sehr nett. Und nur, dass ihr es wisst: Die Frau Voss von
gegenüber ist mir viel zu neugierig.«
     
    Das schmucklose vierstöckige Gebäude der französischen Botschaft
lag in einer ruhigen Seitenstraße des Regierungsbezirks im Stadtteil Mitte,
nicht weit vom Brandenburger Tor, dem Hotel Adlon und dem Pariser Platz
entfernt. Alle Fenster der Vertretung waren hell erleuchtet und illuminierten
die im Wind flüsternden Blätter und Zweige einiger ausladender Kastanienbäume.
Durch eine angelehnte Balkontür drang der schnell aufbrandende und ebenso
schnell wieder verebbende Applaus einer höflichen Partygesellschaft.
    Lisa fuhr mit ihrem Jeep an der Botschaft vor, zeigte dem
uniformierten Wachmann an der videoüberwachten Einfahrt ihre Einladungskarte
und rollte wenig später über das dumpf scheppernde Blech des schweren Schiebetors
in die geräumige Tiefgarage.
    Rund 150 Gäste waren an diesem Abend geladen. Ein Quintett aus
Studenten in goldverzierten Barockkostümen mit gelockten Perücken musizierte
dezent die Ouvertüre von Mozarts ›Zauberflöte‹.
    Lisa betrat die Empfangshalle, in deren Zentrum ein frisch enthülltes
Kunstwerk prangte. Seine Gestalt, befand sie nach kurzer Begutachtung, ähnelte
im Großen und Ganzen einer überdimensionierten Eieruhr und war nicht weiter
interessant. Von dem silbernen Tablett eines dienstbeflissen durch die Menge
schreitenden Kellners nahm Lisa das letzte Glas Orangensaft mit einem Schuss
Sekt. Aufmerksam schaute sie sich in der Menge um. Es dauerte nicht lange, bis
sie ihren Gastgeber ausgemacht hatte. Nur wenige Meter von ihr entfernt
begrüßte der französische Botschafter einen deutschen Staatssekretär aus dem
Landwirtschaftsministerium und dessen viel zu junge

Weitere Kostenlose Bücher