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Gromek - Die Moral des Toetens

Gromek - Die Moral des Toetens

Titel: Gromek - Die Moral des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lutz
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Außer
einem älteren Herrn, der einen Langhaardackel an der Leine führte und eben mit
seinem Hund in eine Seitenstraße bog, war niemand zu sehen. Mit ausdruckslosen
Augen sah Gromek auf Lisa hinab, um sich schließlich erneut über ihre
unverändert daliegende Gestalt zu beugen.

9 .  Beute
     
    Eine junge Krankenschwester betrat ein Einzelzimmer im fünften
Stock des Bellevue-Krankenhauses, in das vor einer halben Stunde eine neue
Patientin gebracht worden war. Vorsichtig, um keinen Lärm zu verursachen, schloss
sie das sperrige Fenster und ließ mit einer kurzen Drehung den Griff einrasten.
Ebenso behutsam fasste sie nach den vom Sonnenlicht brüchig gewordenen Fäden
der Jalousien und zog an ihnen, so dass sich die Position der Lamellen
veränderte und das quadratische Zimmer schlagartig erhellt wurde.
    Nach diesen Vorbereitungen für die anstehende Arztvisite trat die
Schwester an das Bett der neu zugegangenen Patientin und nahm deren aus zwei
Blättern bestehende Krankenakte zur Hand. Gewissenhaft begann sie zu notieren,
was ihr der Überwachungsmonitor anzeigte, an dem der Neuzugang angeschlossen
war. Mit einem roten Stift notierte sie die Herzfrequenz: 75; mit grün den
Blutdruck: 130:76; wieder mit rot die Sauerstoffsättigung: 97 %; dann mit
blau die Körpertemperatur: 36,9 °C. Zuletzt testete sie die Pupillenreaktion.
+/+ lautete ihr Eintrag.
    Ein braunes Pflaster bedeckte die mit sechs Stichen genähte rechte
Augenbraue der Patientin. In diesem Moment verzog sie schmerzhaft das Gesicht -
Lisa war aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht. Ihre noch verschwommene Umgebung
ergab auf den ersten Blick keinen Sinn. Eine Frau, die sie nicht kannte, beugte
sich über sie und lächelte.
    »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind im Bellevue-Krankenhaus
auf der Überwachungsstation. Ich bin Schwester Karin.«
    »Wie bin ich ...?« Lisa beendete die Frage nicht. Ihr Kopf
schmerzte. Ihre Glieder fühlten sich matt und zerschlagen an. »Ich glaube ...
Nein, ich weiß es nicht«, überlegte sie laut. Die Begegnung mit dem
Inline-Skater war gänzlich aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Der Raum schien sich
zu drehen.
    »Sie sind mit jemandem zusammen gestoßen«, erklärte Schwester
Karin. Doch Lisa reagierte nicht auf die Information. »Wie fühlen Sie sich,
Frau Delius? Haben Sie Schmerzen? Ist Ihnen übel oder schwindelig?«
    »Kopfschmerzen«, nickte Lisa vorsichtig und fasste sich an die
verarztete Augenbraue. Ihre Fingerspitzen berührten das Pflaster.
    »Und schlecht ist mir auch. Was ist das?«
    »Eine Platzwunde. Es waren aber nur sechs Stiche nötig, um sie zu
nähen. In spätestens einer Woche können Sie die Fäden von Ihrem Hausarzt ziehen
lassen. Möchten Sie etwas trinken? Nein? Dann hole ich jetzt den Arzt.«
    »Ja, das passt mir gut. Ich habe es nämlich eilig.«
    Lisa hatte sich in ihrem Bett einige Zentimeter aufgerichtet.
Plötzlich fiel ihr alles wieder ein, was sie an diesem Morgen erlebt hatte.
Jedenfalls fast alles. Sie hatte noch immer keine Ahnung, was passiert war,
nachdem sie das Schulgebäude verlassen hatte und zu ihrem Auto gelaufen war.
Irgendwo vor dem Sportplatz hörte ihre Erinnerung plötzlich auf.
    War ihr Vorsprung groß genug gewesen? Hatte Gromek sie aus den
Augen verloren? Lisa begann, den Kopf zu schütteln, hielt jedoch sofort wieder
inne. Nach allem, was sie über ihre Zielperson in Erfahrung gebracht hatte,
erschien ihr diese Möglichkeit als unwahrscheinlich.
    Lisa überlegte weiter. Was sollte sie mit der Information anfangen,
dass sie mit jemandem zusammen gestoßen sei?
    Das alles ergab keinen Sinn. Gromek musste dicht hinter ihr gewesen
sein. Aber warum hatte er sie dann am Leben gelassen? Waren zu viele unliebsame
Zeugen auf dem Schulgelände gewesen, um sie noch an Ort und Stelle
auszuschalten? Julia und Daniel kamen ihr in den Sinn. Waren ihre Kinder noch
im Unterricht und somit in Sicherheit oder hatte Gromek sie in seine Gewalt
gebracht? Die Ungewissheit trieb Lisa an. Sie musste weg von hier! Jede Minute
zählte.
    »Ich weiß nicht, ob der Arzt Sie heute noch entlassen kann, Frau
Delius. Patienten mit Gehirnerschütterung müssen normalerweise vierundzwanzig
Stunden zur Überwachung auf der Station bleiben. Übrigens, Ihr Mann wartet
draußen. Soll ich ihn hereinbitten?«
    »Mein Mann ist der letzte, den ich jetzt sehen möchte«, antwortete
Lisa ohne nachzudenken.
    »Ja oder nein?« fragte Schwester Karin. Sie öffnete die Tür. Auf
dem Flur vor dem Krankenzimmer

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