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Gromek - Die Moral des Toetens

Gromek - Die Moral des Toetens

Titel: Gromek - Die Moral des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lutz
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blockierte sie ganz
und gar. Lisa wusste nur eines: Sie hatte ihre Waffe nicht mehr bei sich, und
sie hatte keine Gewissheit darüber, was mit ihren Kindern geschehen war. Egal,
was Gromek behauptete - wahrscheinlich wollte er sie nur so weit ruhigstellen, dass
sie ihm vor dem Krankenhauspersonal keine Schwierigkeiten machte. Vielleicht
würde er sie vergiften, wenn sie allein im Raum waren. Oder er hatte die Kinder
in der Zwischenzeit in seine Gewalt gebracht. So oder so war sie ihm hilflos
ausgeliefert. Sie würde tun müssen, was dieser Mann von ihr verlangte.
    »Nein«, antwortete Gromek freundlich. »Sie haben unsere Fragen
soweit beantwortet. Sollten wir noch eine Auskunft benötigen, werden wir uns gern
wieder an Sie wenden.«
    Dabei streichelte er Lisa über die Wange, die er vorher geküsst
hatte.
    »Falls noch etwas ist, wenden Sie sich einfach an Schwester Karin«,
empfahl sich der Oberarzt. Und, mit einem Blick zu seiner Patientin: »Wir sehen
uns bei der nächsten Visite wieder, also voraussichtlich gegen 15.00 Uhr, zusammen
mit Prof. Dr. Heidrun Leyndecker.«
    Einen Augenblick später waren sie allein. Lisa blickte sich in dem
Raum um, sah aber keine Möglichkeit für eine Flucht. Hätte sie tatsächlich
vorgehabt zu fliehen, wäre sie gezwungen gewesen, sich erst die
Blutdruckmanschette abzunehmen und außerdem die Sensoren für Körpertemperatur,
Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung zu entfernen. Dann hätte sie Gromek
niederschlagen müssen, um barfuß und im hinten offenen Flügelhemd durch die ihr
unbekannten Gänge und Flure des Bellevue-Krankenhauses davonzulaufen. Kurz und
gut: Sie saß in der Falle.
    Michael Gromek griff sich einen von zwei Stühlen, die an einem
kleinen Tisch vor dem Fenster standen. Er setzte sich neben Lisas Bett und
schlug die Beine übereinander. Einen langen Moment sah er sie stumm an. Dann
sagte er in die Stille hinein: »Töte einen Menschen, der 100 andere töten will,
und du kannst eine Vielzahl von Leben retten.«
    Bei diesem Ausspruch, den sie seit Beginn ihrer Ausbildung immer
und immer wieder gehört hatte, durchströmte Lisa eine Flut von Gedanken und
Empfindungen. Sie erinnerte sich an die Begrüßungsrede zu Beginn ihrer
Ausbildung bei der Sektion-4 , deren Thema die Aussage dieses
Satzes gewesen war. Sie sah den stellvertretenden Direktor der Agentenschule
wieder vor sich, einen Mann, der zwei Jahre lang mit Hingabe über diese
Ideologie doziert hatte. Davids glühender Blick traf sie, als seine schönen,
schmalen Lippen den Satz formten, der den Kern seiner Überzeugungen darstellte.
Viktor Kilars Stimme sprach ihn aus, während sein linkes Augenlid nervös
zuckte. So viele Male hatte sie diesen Ausspruch vernommen, so fest hatte sie
einmal an seinen Inhalt geglaubt - und nun schien sich ihre eigene, längst
überholte und abgelegte Überzeugung gegen sie selbst zu richten. Das Gefühl,
plötzlich auf der anderen Seite zu stehen, drückte ihr die Luft ab. So sehr sie
sich auch bemühte, sie konnte kein einziges Wort herausbringen.
    »Ich habe nicht vor, Sie zu töten. Jedenfalls nicht bevor ich
weiß, welches Spiel hier eigentlich gespielt wird.«
    Lisa traute ihren Ohren nicht. »Was? Was sagen Sie da?«
    Gromek beugte sich vor: »Sie haben richtig gehört, Lisa-Marie
Delius. Und jetzt werde ich versuchen, Ihnen zu erklären, warum Sie und ich
hier sitzen.«
    »Nein«, fuhr Lisa ihn an. »Sagen Sie mir erst, was mit meinen
Kindern ist. Wo haben Sie Daniel und Julia hingebracht?«
    Wieder sah Gromek sie für einen langen Moment an. Dann blickte er
auf seine Armbanduhr. »Es ist jetzt kurz vor 14.00 Uhr. Wo halten sich Ihre
Kinder für gewöhnlich um diese Zeit auf?«
    »Zu Hause«, antwortete sie und versuchte nachzurechnen, wie lange
sie nach ihrer Ohnmacht geschlafen haben musste. »Julia hatte um 12.30 Uhr
Schulschluss, Daniel um 13.15 Uhr. Aber das wissen Sie doch längst. Und falls
nicht, was geht es Sie dann überhaupt an?«
    »Hier, rufen Sie sie an.«
    Ihr Gegenüber griff in die Innentasche seines Sakkos und reichte
ihr sein Mobiltelefon. Lisa starrte das Gerät entgeistert an. Sie begriff
nicht.
    »Nehmen Sie es«, drängte Gromek. »Rufen Sie Ihre Kinder an.«
    Lisa rührte sein Handy nicht an. Stattdessen drehte sie sich um
und benutzte den Tischapparat, der links neben ihr auf dem Nachtschränkchen
stand. Zum Wählen der Nummer beugte sie sich aus dem Bett. Dabei entblößte sie,
ohne es zu bemerken, einen Teil ihrer Schulter und ihres

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