Gromek - Die Moral des Toetens
er grimmig.
»Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, gleich heute früh persönlich zu
erscheinen. Der Unterricht beginnt in wenigen Minuten, und was ich Ihnen zu
sagen habe, lässt sich nur schwerlich in ein, zwei Sätzen zusammen ...«
Ohne Umschweife fiel Lisa dem Lehrer ins Wort. Sie hatte ihn von
Anfang an nicht gemocht.
»Das trifft sich gut, Herr Mellenthin-Knecht, denn ich habe im
Moment überhaupt keine Zeit.«
Und zu ihrem Sohn gewandt: »Du musst mir eines versprechen,
Daniel. Bleib' so, wie Du jetzt bist, ja? Und sei immer lieb zu deiner
Schwester. O. k.? So, und jetzt geh.«
Damit entließ Lisa ihren Sohn in das Klassenzimmer, vorbei an dem
pikierten Lehrer, der über ein »Ja, aber ...« nicht hinauskam.
Gromek war Lisa in einigem Abstand gefolgt. Aber er hatte nicht
bedacht, dass die Gänge so kurz vor Unterrichtsbeginn überfüllt waren mit
Jungen, Mädchen und vereinzelten Lehrern. Gromek geriet in einen Pulk raufender
Sechstklässler und verlor Lisa und ihren Sohn aus den Augen.
Die Schulglocken läuteten. Die meisten Schüler waren in ihren
Klassenräumen verschwunden, der allgemeine Lärm war verebbt. Nur vereinzelte
Nachzügler und notorische Toiletten-Geher liefen noch auf den Fluren herum.
Die Suche nach Lisa führte Michael Gromek an einer Reihe geschlossener
Türen vorbei. Ein Erstklässler, der Schwierigkeiten hatte, den verklemmten
Reißverschluss an seinem Hosenlatz zu schließen, stolperte verträumt an ihm
vorbei. Gromek ließ den Blick in alle Richtungen schweifen. Es waren nur wenige
Sekunden vergangen, seitdem er seine Zielperson aus den Augen verloren hatte.
Noch hatte er gute Chancen, sie wiederzufinden.
Durch eine Glasvitrine, in der Violinen und Flöten ausgestellt
waren, sah er in den Innenhof. Hinter einer blonden Frau fiel eine schwere Holztür
ins Schloss.
War es Lisa-Marie Delius gewesen?
In panischer Hast war Lisa zum Eingang des Gebäudes gelaufen. Sie
stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den schweren Flügel des Portals und
stürmte gleich darauf ins Freie. Sie wollte so schnell wie möglich zu ihrem
Wagen.
Lisa rannte über den Schulhof. Je weiter sie sich von Gromek
entfernen konnte, desto besser. Sie ging davon aus, dass er inzwischen wusste,
wo sie und ihre Kinder wohnten. Er würde sie also jederzeit wiederfinden
können. Doch darum konnte sie sich später kümmern. Sektion-4 hatte
Möglichkeiten. Lisa nahm eine Abkürzung, die am Sportplatz entlangführte. An
der nächsten Ecke würde sie ihren Jeep bereits sehen können. Noch im Laufen
griff sie nach den Schlüsseln in ihrer Handtasche. Eilig warf sie einen Blick
über die Schulter.
Den behelmten und an Knien und Ellenbogen gut geschützten Schüler,
der sein Bestes gab, um bis zum Unterrichtsbeginn noch so viel wie möglich von
der an diesem Morgen verschlafenen halben Stunde wieder wettzumachen, bemerkte
sie zu spät.
Nach einem jähen Zusammenprall lagen beide am Boden.
Während der Junge sich einen Moment später wieder soweit erholt
hatte, dass er verwundert seinen unverletzten Körper betrachten und dann auf
allen vieren zu Lisa hinüberkriechen konnte, blieb diese reglos liegen. Der
Junge traute sich nicht, die Frau anzufassen. Stattdessen begann er, eine Flut
von Entschuldigungen zu stammeln.
Doch Lisa hörte ihn nicht. Sie war bewusstlos.
Hinter dem Schüler erklangen Schritte. Schuldbewusst drehte er
sich um und stellte erleichtert fest, dass es sich um keinen seiner Lehrer
handelte. Der gut aussehende, dunkelhaarige Mann, der sich vom Sportplatz her
näherte, blieb direkt vor ihm stehen. Er kniete sich neben die Frau und
überprüfte Atmung und Pulsschlag, bevor er sich dem Jugendlichen zuwandte:
»Schon gut, mein Junge. Es ist halb so schlimm. Ich kümmere mich
um sie. Du kannst jetzt gehen.«
Der Schüler hatte zwar ein schlechtes Gewissen, als er einfach
verschwand und die Frau ihrem Schicksal überließ, aber noch größer war seine
Furcht vor einer Bestrafung durch den Rektor. Inline-Skating war auf dem
Schulgelände streng verboten. Und es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass man
ihn dabei erwischt hätte. Im Übrigen hatte der Fremde mit seiner ruhigen,
sicheren Art einen vertrauenerweckenden Eindruck auf den Jungen gemacht. Er
fühlte sich ohnehin wohler dabei, die Angelegenheit einem Erwachsenen
überlassen zu können.
Nachdem der Junge sich verdrückt hatte, ließ Michael Gromek seinen
Blick noch einmal über den Parkplatz und das Schulgelände schweifen.
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