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Gromek - Die Moral des Toetens

Gromek - Die Moral des Toetens

Titel: Gromek - Die Moral des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lutz
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einschätzen können, weshalb der Mann sie verfolgte.
Vielleicht wollte er nur herausfinden, wer sie war und warum sie ihn beschattet
hatte. Allerdings konnte er das genauso gut schon getan haben und nun
seinerseits ... Lisa versuchte, äußerlich so gelassen wie möglich zu bleiben,
während sie sich eingestand, dass ihr die zweite Möglichkeit wahrscheinlicher
erschien. Sie wollte Julia und Daniel nicht beunruhigen. Als die Ampel nach
einer halben Ewigkeit wieder auf grün sprang, legte sie die letzten 200 Meter
ohne Hast zurück.
    Vor der Schule drosselte sie das Tempo und suchte zur Verwunderung
der Kinder nach einem Parkplatz.
    »Du kommst mit, Mami? Das ist aber schön«, verkündete Julia
freudig überrascht.
    Daniel dagegen wirkte plötzlich seltsam bedrückt. Vorsichtig erkundigte
er sich: »Hat das etwas mit dem Brief zu tun, den ich gestern mitgebracht
habe?«
    »Was denn für ein Brief?«
    Lisa hatte keine Ahnung, wovon ihr Sohn sprach, und im Moment auch
keine Zeit, darüber nachzudenken. Je mehr sie darüber nachdachte, desto
überzeugter war sie davon, dass ihr Zielobjekt inzwischen ihren Auftrag kannte
und nun im Gegenzug versuchen würde, sie zu liquidieren.
    »Über den Brief reden wir heute Nachmittag, Daniel. Kommt, los, beeilt
euch ein bisschen!«
    Beim Abschließen ihres Cherokee schaute sich Lisa nach
ihrem Verfolger um. Dabei war es ihr egal, ob er ihren Blick bemerkte oder
nicht. Sie beobachtete, wie er seinen Wagen in einiger Entfernung ebenfalls
parkte und danach ohne Eile ausstieg.
    Lisa überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Auf keinen Fall
wollte sie, dass ihre Kinder Angst bekamen.
    Entschlossen griff sie in ihre Handtasche und entsicherte ihre SIG-Sauer .
Weder das fröhliche Geplapper ihrer Tochter noch die inbrünstig vorgetragenen
Unschuldsbekundungen ihres Sohnes, die besagten, dass der Kaugummi in den
Haaren seines Klassenkameraden in Wahrheit ein großes Missverständnis gewesen
sei, nahm sie richtig wahr.
    Vor dem Haupteingang der Wilmersdorfer Grund- und Realschule
trafen sie mit Dutzenden anderer Schüler, vereinzelten Eltern und Lehrern
zusammen, die Lisa flüchtig grüßte. Sie alle strömten und drängelten durch das
wuchtige eiserne Portal des auf eine über 100-jährige Vergangenheit
zurückblickenden Schulgebäudes.
    In dem breiten, mit Schülerzeichnungen geschmückten Gang vor
Julias Klasse stand deren Lehrerin und unterhielt sich angeregt mit einer
anderen Mutter. Sie nickte Lisa freundlich zu, ohne das Gespräch zu
unterbrechen. Einige Kinder tobten vor und in dem Unterrichtsraum umher, der
sich langsam mit Schülern füllte. Lisa ging vor Julia in die Knie. Ihre
Gesichter waren jetzt auf gleicher Höhe. Die grenzenlose Liebe und das
ungebrochene Vertrauen, die aus den Augen ihrer Tochter sprachen, schnitten
Lisa ins Herz. Sie war sich nicht sicher, ob sie Julia und Daniel jemals
wiedersehen würde. Es gab noch so vieles, was sie ihnen hätte sagen wollen ...
»Schluss jetzt!« ermahnte Lisa sich stumm. Sie wusste, dass sie sich nicht
selbst darauf programmieren durfte, einen Kampf zu verlieren. Das war Teil
ihrer psychologischen Ausbildung gewesen. Dennoch fiel es ihr in diesem Moment
schwer, sich daran zu halten. Sie hatte so viel mehr zu verlieren als es damals
der Fall gewesen war ...
    Lisa gab ihrer Tochter einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Gerade
wollte sie sich von ihr verabschieden, als sie mit Entsetzen feststellte, dass
Gromek nur wenige Meter hinter Julia stand und sie beobachtete. Augenblicklich
sprang Lisa auf, nahm ihre Tochter energisch an der Hand und übergab sie ihrer
überraschten Lehrerin.
    Dann packte sie ihren niedergeschlagen wartenden Sohn bei der
Schulter und schob ihn auf dessen Klassenzimmer zu, welches glücklicherweise
auf demselben Flur lag. Tränen glänzten in ihren Augen. Daniel zerbrach sich
währenddessen darüber den Kopf, welche unangenehmen Konsequenzen ein Gespräch
zwischen seiner Mutter und seinem Klassenlehrer haben würde. Er war so sehr mit
seinem schlechten Gewissen beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, in welcher
Verfassung seine Mutter war.
    Kaum waren sie um die Ecke gebogen, schienen sich seine Befürchtungen
zu erfüllen: Daniels Klassenlehrer wartete schon an der Tür. In der einen Hand
die Klinke, die andere in die Hüfte gestemmt, blickte er ihnen entgegen. Sein
Gesichtsausdruck wechselte von ernst zu sanktionsfreudig, als er Daniel
erspähte.
    »Guten Morgen Daniel, guten Morgen Frau Delius«, tönte

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