Große Ferien
sich mit den Bauchfüßchen an ihr benagtes Blatt, so fest, dass man sie selbst mit Kraft kaum lösen kann. Das versteht ein Klaußner nicht. Aber Schramm konnte sich nicht auch noch darum kümmern, wie man ihn sah. Die Grübelfalle schnappt zu und geht nicht auf. Wer drin hockt, tut bald keinen Schritt mehr nach vorn. Er schleicht vom einen ins andere Zimmer und geht im Kopf die Handlungen durch, wie man es mit einer Kette von Rechenoperationen tut, Schritt für Schritt, damit am Schluss kein Rest mehr bleibt. Was, wenn an einem bestimmten Punkt ein Fehler nicht unterlaufen wäre, was, wenn man von anderen Größen ausgegangen wäre ganz am Anfang. Solche Gedanken laufen im Kreis, ständig ändert sich die Richtung ihrer Geschwindigkeit.
Mit dir wird es Geschichten geben! Das hatte Schramm von Anfang an gewusst, schon als der Junge, an einem Wochentag im längst begonnenen Schuljahr, bei den Vitrinen vor den Physiksälen gestanden hatte. Von seiner Mutter begleitet, mit seiner Mappe im Arm, der Mappe, die er von diesem ersten Tag an in der immer gleichen Haltung mit sich herumtragen und kaum einmal ablegen sollte. Ohne Vorankündigung, ohne Rücksprache war Waidschmidt an die Schule gekommen, wegen eines, aus familiären Gründen, plötzlich vollzogenen Umzugs. Offenbar in Eile. Mehr erfuhr man nicht. In dem schmalen, vom restlichen Flur durch eine Glastür getrennten, nur befugten Lehrern zugänglichen Trakt standen sie. Bevor Schramm sie verweisen konnte, schritt die Frau auf ihn zu. Man hat ihn falsch eingestuft, erklärte sie und zeigte auf den vor das Exponat einer Schlauchwaage gebeugten Jungen. Bei auffallend schönen Einzelheiten keine schöne, keine ansehnliche Gestalt, dachte Schramm, und wieder musste er sich fragen, wie es mit dem Mädchen etwas hatte werden können, was Anna gefunden hatte an diesem Menschen. Mit seinen abgewinkelten Ellbogen, der an den Leib geklemmten Ledermappe. Wann immer Schramm an Waidschmidt dachte, dachte er an diese Mappe. Eine mit Haltegriff und Schnappverschluss versehene, an den Ecken schon hässlich abgeriebene, aus tabakfarbenem Lederimitat gefertigte Mappe. Die nötigen Bücher fanden darin unmöglich Platz. Völlig aus der Mode war sie und dazu unpraktisch, und auch wenn man es sich in diesen Dingen nicht zu einfach machen darf, dachte Schramm, war mit dieser Mappe doch schon alles Nötige über den Träger ausgesagt. Die Fußspitzen hatte er nach außen gedreht. Weiß gestärkte Kurzärmel spreizten sich von seinen mageren Schultern. Erst auf unwilliges Schmatzen seiner Mutter hin richtete er sich auf und trat heran. Nennen Sie mich Artur, forderte Waidschmidt ihn, nachdem er eine Reihe weiterer Vornamen genannt hatte, auf. Allein vom Hören wurde man ganz wirr. Das wird das Einfachste sein, fügte er hinzu. Als hätte man eben ein Geschäft verhandelt und er nannte den Preis.
Es war nicht richtig, das wusste Schramm gleich, als der Junge zum ersten Mal bei Pausenbeginn vor dem Kartenzimmer auf ihn wartete, mit einer Frage und einem unzufriedenen Gesicht. Es gefiel Schramm nicht, erst recht nicht, als Waidschmidt kurz darauf wieder und dann noch einmal dort stand. Doch musste man es die ersten Male jeweils für etwas Einmaliges halten, so dass er ihn nicht fortschicken wollte, es später nicht mehr konnte, da eine Regel daraus geworden war. Aber wenn sie bald alle Pausen, mitunter auch die Nachmittagsstunden in dem Kartenzimmerchen verbrachten, so geschah es nicht auf Schramms Wunsch, es geschah auf Waidschmidts Antreiben hin.
Besser, dem Bruder gegenüber nichts zu erwähnen. Ohnehin hatte er für Schramms Tätigkeit nie ein aufrichtiges Interesse aufbringen können, kein aufrichtiges und schon gar kein ernstes. Natürlich zwang er sich bei jedem ihrer Treffen zu der Frage, was es Neues gebe, doch vor allem in der Absicht, zu hören, dass alles beim Alten geblieben sei. Mein Bruder, der Lehrer, so stellte er Schramm Dritten gegenüber vor, Physik, Mathematik, Erdkunde, zählte er auf. Nimm dir ein Beispiel, hat es früher geheißen, erzählte er lachend, und erzählte, wie früher die Eltern mit ihm nicht aus wussten noch ein. Was soll denn aus dir werden, haben sie gefragt, oft und oft haben sie das gefragt, sagte Viktor und reckte seine Glieder. Wie gern er die Sorgen der Eltern zum Besten gab. Entgegen allen Erwartungen war der Bruder Arzt geworden. Kein Doktor, aber jedenfalls ein richtiger Arzt, wie die Mutter nicht müde wurde zu betonen, wann immer sich
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