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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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die Gelegenheit bot. Anfang September geht es weiter, würde Schramm antworten, was sollte es auch Neues geben? Und Viktor bliebe in dem lieb gewordenen Bild. Der Bruder war genug in Anspruch genommen, seine eigenen Angelegenheiten zu ordnen. Niemand hätte etwas davon, finge er an, sich auch noch um die Sorgen anderer zu kümmern.

I mmer waren die großen Ferien eine kritische Zeit gewesen. Solange die Mutter gelebt hatte, war es nicht leichter, es war um vieles verwickelter gewesen. Ihr hätte er die Sache unmöglich begreiflich machen können, ohne verhöhnt zu werden, und zwar zu Recht. Zu Recht schätzte die Mutter Knappheit und Klarheit. Kappes, rief sie, sobald sie witterte, dass einer seine Aussagen selbst nicht ganz gar hatte, und ihre Nase war, was diese Dinge betraf, fein. Kappes, und damit war das Gesagte erledigt für sie, eingedrückt im Zigarettenstummel auf Aschenbechergrund, einsortiert in die dürren Rubriken in ihrem Kopf. Bilanzen aus Soll und Haben, ein einfaches System. Nur die Geschwindigkeit ihrer Berechnungen machte es kompliziert, die Flinkheit, mit der sie aufnahm, verarbeitete und zu einer Bewertung kam, bereits im Moment des Aufnehmens verarbeitete und bewertete, wenn nicht schon im Vorfeld. Noch als sie ins Stift gekommen, ihr Fragen zuletzt ungenauer geworden war, hatte er niemals sicher sein können, was die Krümmung ihrer Mundwinkel ihm anzeigen sollte. Ob sie seine Aussage missbilligte, anzweifelte oder nicht verstand, wenn er sie in kleinen Dingen, um sie zu schonen, belog. Oder ob nicht mehr sie, sondern ihr Leib als Letztes diesen Ausdruck des Zweifelns beherrschte und hervorholte, um wenn schon keine schöne, wenigstens eine Form zu wahren, als ihr Verstand mit dem Gesagten keinen Inhalt mehr verband.
    Einfach nicht mehr hingegangen, so viel konnte festgehalten werden. Und wohl auch, dass Waidschmidts Irrewerden in keinem ausgemachten Verhältnis stand zu diesem einen Mal, dass sie, wie man es ausdrücken konnte, aneinandergeraten waren. Scherereien hatte es mit diesem Jungen schon viel früher gegeben. Nur an die Bilder musste Schramm denken, an all den Aufruhr um die Bilder, und diese war noch die harmloseste Geschichte. Auf Körper von Tieren hatten die Klassenkameraden Waidschmidts Gesicht montiert, den eines nackten Hundes, einmal auf den eines Kindes in Windeln, den einer Frau. Jeder, der wollte, konnte diese Bilder sehen, die Fotografien und die hinzugeschriebenen Beleidigungen, aber das war Sache der Kinder, und in deren Angelegenheiten mischte Schramm sich aus guten Gründen nicht ein.
    Der Mutter hätte er all das unmöglich begreiflich machen können, sie hätte allerdings davon Wind bekommen. Wieder und wieder hätte sie es ihm unter die Nase gerieben, und sei es auf die beiläufigste Art. Je beiläufiger ihre Anspielungen, desto unzweideutiger ihr Missfallen. Sie hätte es ihm nicht abgenommen, dass er nichts geheim hielt, vielmehr selbst nicht begriff, wie es alles so weit gekommen war.
     
    In manchen Momenten war er von Klarheit zwar ganz erfüllt, imstande, sich und seine Handlungen aus einem Abstand zu betrachten, einem angemessenen Abstand. Er und Waidschmidt im Physiksaal, vorn bei dem steingefliesten Labortisch, der Junge an den Saum des Ausgussbeckens gelehnt. Und so weiter, dachte Schramm. Es erklärte doch nichts. Er wusste, was an dem Tag an der Tafel gestanden hatte, welches Datum, welche Überschrift. Vergesslich war er nicht. Er erinnerte sich, sah den Jungen noch hinterm Becken stehen, verdeckt von dem aus den Gashähnen wachsenden Schlauchansatzpaar, die gekappten Enden, die sich einwärts krümmten vor seiner Brust. Waidschmidts schon zur Tür gedrehte Schultern, den hochgestimmten Ausdruck in seinem Gesicht. Kurz vor den Prüfungen, zwei Wochen noch fehlten, und zum ersten Mal hörte Schramm aus Waidschmidts Mund das Wort »wir«. Und so fort, dachte Schramm. Nur noch hersagen musste man es, eine Abfolge von Handlungen und Äußerungen, langweilig in ihrer Vorhersehbarkeit selbst für diejenigen, die es zum ersten Mal hörten.
    Im nächsten Moment zerfiel es ihm. Und das war nicht aus Faulheit oder Feigheit so gesagt. Noch nicht zur Gänze verworfen hatte er das Vorhaben, es alles zu schildern, wie es gewesen war, in einem an Kollegen, Schüler- und Elternschaft, an jeden, der es wissen wollte, versandten offenen Schreiben. Was darin stünde, wusste er. Nur noch aufschreiben, dachte Schramm. Und er hatte, wenn er nachts aufwachte, die richtigen

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