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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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Kriechgewächsen ist nicht beizukommen. Über Wiesen, Schuttfluren, Triften recken sie ihre Ausläufer, meterlange, am Boden niederliegende Stängel. Sie wurzeln an den Knoten, sie fassen Fuß in jedem Winkel, der ihnen auch nur halbwegs zusagt. An den Wurzeln muss man sie zu fassen kriegen, dazu muss man knien, kauern oder hocken, anders geht es nicht. Bald handtief langen die Wurzeln des Fingerkrauts in die Fugen hinab. Zweiglos nackt krümmen sich seine Stängel. Nicht einmal besonders hässlich, ist es doch ein äußerst unangenehmes Gewächs, es lässt sich nieder, wo es kann. Er konnte schon die Lust verlieren, wenn er von weitem die gelben Tupfen neckisch aus der Grasnarbe blitzen sah. Und schon rannen die Gedanken fort zu ganz anderen, unbrauchbaren Orten, waren, derweil die Hände ruhten, bei einer möglichen Belohnung angelangt.
    Regelmäßig unterbrach Schramm sein Scharren, führte, nachdem das Gröbste zutage gefördert war, den Draht gleich einer Sonde in die Ritze hinein. Oft genug fand sich dort noch Wurzelwerk, in den Härchen verfangene Kieselsteinchen, Getier. Ein aus dem Erdreich emporirrender Regenwurm oder die Larve eines Käfers. Von einer Schwemme war anfangs verharmlosend die Rede gewesen, doch musste richtiger von einer Plage gesprochen werden, seit es zu Mutationen gekommen war, durch eingekreuzte Arten aus Fernost. Man merkte es an der Zeichnung ihrer Flügel, der ungewohnt hellen, bei einigen ins Ocker- oder Feuergelbe gehenden Grundfarbe, vor allem an dem zum Schutz vor Fressfeinden abgesonderten Gestank. Eingeschleppt an den Schalen importierter Früchte, der Kleidung Reisender, resistent gegen hergebrachte Verfahren der Abwehr.

W aidschmidt, darin hatte Einigkeit geherrscht, war einer, bei dem man mit vielem rechnen musste, nicht aber damit, dass er alles hinwerfen würde kurz vor dem schriftlichen Abitur. Der kommt wieder, hatte Schramm beschworen, aber er redete nicht nur, er war überzeugt. Bei einer Punktzahl, wie Waidschmidt sie in den vergangenen drei Halbjahren angesammelt hatte, spielte es ohnehin keine Rolle mehr: in drei Klausuren hätte er scheitern können und am Ende immer noch das Abitur bestanden, nur erscheinen, hatte Schramm, wie es sonst nicht seine Art war, betont: nur hingehen, in der Tasche hast du es schon. Nicht zu schade gewesen war er sich, die an dieser Stelle üblichen Sätze aufzusagen, sie handelten von Plänen und Möglichkeiten und einer Zukunft, die man nicht aufs Spiel setzen darf, solange sich das Ruder noch herumreißen lässt.
    Es war zu schnell, zu vieles gleichzeitig geschehen. Schramm wusste zu wenig über die Vorfälle, kannte schließlich nur einen kleinen Ausschnitt. Darum hatte er die Mutter des Jungen ein zweites Mal aufgesucht, und darum hatte er auf Anna gewartet bei den Tennisplätzen, um ihr ein paar Fragen zu stellen, ohne dass man gleich etwas dabei denken muss.
    Sie verstehen es doch nicht. Einhändig hatte sie das Rennrad neben ihm hergeschoben, den Arm steif abgestreckt, die Birkenschonung abwärts, wo es zur Böschung bei den Gleisen ging. Über die schmale Fußgängerbrücke, in deren Mitte sie stehen blieb, stirnfaltig mit dem Blick den gleißenden Schienenpaaren nachfuhr, die Ellbogen auf Stahlgeländer abgestützt, als läse sie. Hatte es mit dem Mädchen zu tun, dass Waidschmidt ohne jede Ankündigung den Willen verloren hatte, mit diesem Mädchen oder einem Streit, irgendetwas musste doch vorliegen. Sie verschränkte die Finger über der rauen Metallstrebe, blinzelte in das tief durch die Schneise brechende Nachmittagsgelb. Sie verstehen es doch nicht, sagte sie, ich habe dich etwas gefragt, beharrte Schramm.
    Verstockt, dachte Schramm, verschwitzt und verstockt hatte sie da gestanden, neben ihm über den Schienen, Kapuze in die Stirn gezogen, den Tennisschläger vor der Brust. Die schwarze Schminke um ihre Augen verwischt. Traurig, verglich man sie mit dem Äffchen, das sie gewesen war, mit elf, zwölf Jahren, mit ihren Klavierstunden und Preisen im Schach. Zwei große Brüder, ein Austauschjahr in Amerika, von wo sie mit manikürten Nägeln zurückgekehrt war, noch länger und zäher gewachsen. Und man darf es sich in diesen Dingen nie zu einfach machen, eins dieser Prinzesschen war sie nicht. Sie hatte sich zur ersten Schülersprecherin wählen lassen, sie schacherte mit den Lehrern um jeden zu vergebenden Notenpunkt. Und jetzt stand sie da, so stumm, als ob ihr noch nie im Leben ein Wort über die Lippen gekommen wäre.

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