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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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wahrscheinlich machte sie sich keine Gedanken mehr. Gewöhnlich trug sie wadenlange, weit fallende Gewänder, Nachthemden ähnlich. Oft wird vom Lehrer gefordert, ein zuvor Versäumtes wieder gut zu machen. Aber es ist nicht anders als mit Braunkohle auch. Man kann nur fördern, was unter Tage liegt; wo nichts ist, bohrt man ins Leere.
     
    Immer dienstags hatte er zwei zusätzliche Käsebrote in die Schule mitgenommen, die er, solange er auf die zur Sprechstunde angemeldeten Eltern wartete, bei weit geöffnetem Fenster aufaß. Meist waren es Mütter, die die Beine übereinanderschlugen und ihm Vorwürfe machten. Hinter ihren Köpfen die physische Darstellung Mitteleuropas. Aus dem Gedächtnis hätte er auch jetzt noch die Schraffuren der Hochgebirge nachzeichnen können. Die Falzkante im Papier mitdenkend, die eine harte Linie durch Wien schlug. Rechts des Planquadrates K  15 ein Spannungsriss in der Tapete, an die Südgrenze Ungarns angeschlossen. Mit der Zeit gestreckt hatte sich dieser Riss, bis er über die vorgestellte Fortsetzung der Grenze Ungarns deutlich hinausgewachsen war, an den blätternden Lack des Türrahmens stieß.
    Von Ihnen hat er viel gesprochen, hatte Frau Waidschmidt gesagt, das einzige Mal, dass sie ihn aufgesucht hatte wegen ihres Sohnes. Da war der schon nur noch höchst unregelmäßig erschienen. Sie war zu früh gekommen. Als läge der Fehler bei ihm, beeilte Schramm sich. Das Fenster zu schließen, ihr den Platz zuzuweisen, das Brot, von dem er eben noch herzhaft abgebissen hatte, in Folie zu verstecken. Sie wissen, es gibt Probleme, sagte sie. Die Linie ihres Halskettchens irrte, Haken schlagend, in den Schatten unterm Blusenkragen, ein funkelndes Fädchen, haftend an ihrer dünnen, geäderten Haut. Immer sah er sie im gleichen Kleid. Stumpfer Krepp, die Sorte, die einen, wenn man sie berührte, das Nackenhaar erstarren ließ. Die Farbe von Ziegeln, nur blasser, aufgeraut; ein zerschossenes, an etwas Unreifes erinnerndes Rot. Man lernt hier nichts, man redet hier nur, klagte Frau Waidschmidt, und: Was soll ich Ihnen sagen, Herr Schramm, er sitzt den lieben langen Tag nur herum. Nicht einmal Fernsehen, er sitzt nur herum, stundenlang am Fenster. Warum sie damit zu ihm gekommen sei. Wenn irgendwo gelernt, nicht nur geredet werde, doch wohl bei ihm. Es ist der alte und immer neue Ärger, sagte Schramm. Sie fasste die Ledergriffe ihrer Handtasche wie Zügel nach. Was Sie nicht sagen. Was ist mit Ihrer Gesundheit, fragte sie, schon nach der Türklinke fassend: Sie waren im Krankenhaus, nichts Ernstes, erwiderte Schramm, Sie sehen nicht gut aus, Herr Schramm, sagte sie, anstelle eines Abschiedsworts. Noch aus dieser doch anteilnehmenden Äußerung hörte er wieder nur ihr Missbilligen heraus. Er antwortete nichts, er nickte zum Gruß. Und wickelte, kaum dass sie fort war, das letzte Stück Brot aus seiner Silberfolie. Das Geräusch ihrer Absätze schallte zu ihm herauf, kurze heftige Schritte, mit denen sie im präzisen Torlauf das rot gummierte, dünngeriebene Spielfeld in der Schulhofmitte kreuzte, im Strafraum stehen blieb, zum Zigarettenanzünden den Kopf in zwei hohle Hände beugte. Hungrig kaute er, sah ihr nach, wie sie Asche auf das Spielfeld schnippte, eilig, wahrscheinlich auf dem Weg zu irgendeiner Alten. Zufrieden konnte er nicht sein mit diesem Gespräch, es war ihm unangenehm, und dass es ihm unangenehm war, ärgerte ihn.
    Wo käme einer hin, der es jedem recht machen wollte. Dass ihm die Herzen zuflögen, hatte er nie gewünscht. Es zeigte sich doch, immer wieder zeigte es sich, dass die gerade Linie am weitesten reicht. Es gab unter den Schülern solche, die ihn einen Menschenschinder nannten, einen Tyrann und Faschisten. Je nachdem, welchen Begriff sie zuletzt aufgeschnappt hatten und für passend hielten. So etwas hörte er. Doch musste er nicht zu den unbeliebtesten Kollegen gezählt werden, bei ihm, hieß es unter den Schülern, wisse man zumindest, woran man sei.
    Wir sind hier nicht im Religionsunterricht, sagte er, wie man es von Lehrern kennt, wenn ein Schüler oder eine Schülerin der eigentlichen Antwort ein »ich glaube« vorausschickte, wir sind hier nicht im Bundestag, sagte er, wenn einer »ich meine« benutzte, sich zu sichern vor einer falschen Antwort. Jeden Schüler hatte er als Aufgabe gesehen, seine eigene Zuständigkeit darin, ihnen zum Verständnis bestimmter Sachverhalte zu verhelfen, Sachverhalte, die sich dem Verstand nicht von allein erschließen.

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