Große Ferien
Alle Körper sind unterteilbar in Temperaturklassen gleichwarmer Körper. Ändert sich die Temperatur eines Körpers, geht er in die entsprechende Klasse über. Die Bewegungen innerhalb einer geschlossenen Anordnung kommen nach hinreichend langer Zeit zur Ruhe.
Es erweckt vielleicht den Anschein, einer wie Schramm hätte nur seine Berechnungen im Sinn, daran gewöhnt, die Natur unter Voraussetzungen der größtmöglichen Isolation zu beobachten, wie sie nur im Unbelebten erfüllt sind. Für die Verwicklungen unter Menschen fehlte ihm hingegen jeglicher Sinn, so dass man in seiner Gegenwart ohne jede Hemmung abfällige Bemerkungen machen kann. Als wären in seinem Gehirn die entsprechenden Schaltzentren nicht vorhanden oder wenigstens stillgelegt. Das Gegenteil ist der Fall.
Jeder weiß, wie Schüler sich über ihre Lehrer austauschen. Wie sie in magischer Praxis versuchen, die Autorität des am meisten Gefürchteten aufzuheben, indem sie sich ihn bei seinen privatesten Verrichtungen vorstellen. Ein Genuss, solange man gewiss sein kann, dass es beim gedachten Bild bleiben wird. Zur Not ließe der Körper des Lehrers sich zusammenpressen auf zwei Dimensionen bedruckten Papiers, nicht anders als das klappbare Modell des menschlichen Körpers, das man aus dem Biologiesaal und dem Arztwartezimmer kennt. Nur die Laschen fehlen, um die Rippen, beziehungsweise den Schädel, aufzuklappen und die dahinterliegenden Organe zu betrachten. Großen Spaß haben Kinder an diesen Modellen, doch in der Wirklichkeit, das wissen sie gut, muss man sich einen solchen Anblick nicht zumuten, schon gar nicht, wenn es um einen Lehrer geht. In Wahrheit möchte man nichts über dessen Milz wissen, nichts über sein Bauchhöhleninneres; umgekehrt darf der Lehrer es nicht persönlich nehmen, wenn ihm Getuschel zu Ohren kommt.
Er war nie mit jemandem vertraulich geworden, solche Kindereien würde er erst recht für sich behalten, sie waren nicht der Rede wert: Obszöne Kritzeleien an der Tafel, hinter Scheibenwischer geklemmte Botschaften mit Zeichnung. Ein schwieriges Alter, heißt es dazu, und ausnahmsweise hat der Gemeinplatz mit der Wirklichkeit etwas zu tun. Er musste nur an die Streitereien von nebenan denken. Nach ihrem Dauerlauf duschte die Tochter, lange konnte er es hören durch das gekippte Fenster der anderen Haushälfte schräg über ihm, Rauschen und Rieseln und den dumpfen Schlag, wenn die Boilerflamme ansprang. Später läge sie, sonnte sich auf einem dünnen Strandtuch, ausgebreitet über den rissigen Steinplatten, mit denen der hintere Teil des Grundstücks beinahe zur Gänze bedeckt war. Wenn ihr Vater nicht grub und bohrte, lag sie dort, bis die Sonne den Hang nicht mehr beschien. Auf dem Rücken lag sie, in einem mit dünnen Bändern geschnürten Bikini; unter den Schleifen traten ihre Hüftknochen spitz hervor. Alissja oder Lissja wurde sie von ihrer Mutter gerufen und gab keine Antwort, mit keiner Regung ihres Körpers ein Zeichen, dass sie gehört hatte. Genau konnte Schramm die Laute nicht zuordnen, doch mit Namen hatte er es noch nie gehabt.
Sechsmal dreißig Namen pro Jahr, im Schnitt, auch das muss einmal gesagt werden. Eingefügt in einen Sitzplan, waren sie nicht mehr schwer zu behalten, verknüpft mit einer Anordnung von Gesichtern im Raum. Es nützte ihm zwar nichts, aber noch immer vermochte er sie aufzulisten, beginnend vorn links. Julia, Sarah, Marina, Anna; Niko, Stefan, Sebastian, Jan. Und so fort, dachte Schramm. Er wusste, wie sie gesessen hatten, und konnte doch kein genaueres Bild zusammensetzen vor dem inneren Auge. Die Klassen waren zu groß gewesen. Aylin, Christin, Lena, Marie, sie hatten viel miteinander gemein, jede von diesen, dachte Schramm, hätte es werden können; Anna, mit der Waidschmidt zuletzt gesehen worden war, so gut wie irgendeine andere auch. Erste Reihe, vierte von links. Morgens hatte sie mit ihren Traubenzuckerwürfeln und gespitzten Stiften am Platz gesessen, mit feuchtem Haar, zum Knoten gewunden, scheitelhoch festgesteckt, dass man zuschauen konnte, wie es sich in ihrem Nacken trocknend bleichte. Wenn Schramm sich neben sie beugte, um ihre Rechnungen zu prüfen, konnte er sie sehen, die aus der Frisur gezausten Federchen, den undeutlichen Übergang in den sandblass verschossenen, den Hals hinab unter den Kragen wachsenden Flaum. Fehler erlaubte sie sich kaum, aber ob sie darum etwas Besonderes war. Was einer wie Waidschmidt mit einem Mädchen wie diesem zu bereden hatte, was
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