Große Ferien
vorbeifuhr, am Zimmer rüttelte, noch durch die dickglasigen, silbrig geschwärzten Lärmschutzscheiben, an denen Waidschmidt an besagtem Nachmittag, mit dem Rücken zu ihnen, während Schramms gesamten Besuchs reglos stand.
Für Stunden, sagte seine Mutter, steht er so da. Aber wenn Sie gekommen sind, damit ich es Ihnen erkläre, sind Sie hier falsch. Ich weiß schon lange nicht mehr, was in diesem Kopf drin ist. Frau Waidschmidt hielt die Tasse auf den Knien. Ihre Strümpfe waren so dünn, dass man darunter die Äderchen an Knöcheln und Schienbeinen sah. Für Stunden steht er so herum, sagte sie. Solange er wenigstens nicht mit denen an der Bushaltestelle sitzt und raucht und aus der Flasche trinkt. Kinder von reichen Leuten, und sie sitzen auf der Straße, als ob sie kein Haus hätten, sitzen im Dreck und lärmen und betrinken sich. Für so was sind wir nicht hergekommen, sage ich ihm immer wieder. Laut und wie ohne sein Beisein redete sie über ihren Sohn, der in der bekannten Haltung, Hände in den Taschen, mit ihnen zugewandtem Rücken auf die Landschaft sah. Was für Bilder, woher soll ich das wissen, fragte sie, als hätte ich nichts anderes zu tun.
Auf Körper von Tieren hatten sie Waidschmidts Gesicht montiert, auf den eines Kindes in Windeln, den eines nackten Hundes und den einer Frau. Kurz nach dem Trainingsspiel auf nassem Novemberrasen, als Waidschmidt anscheinend völlig grundlos auf den anderen Jungen losgegangen war. Was für Bilder, fragte sie, und sind Sie gekommen, um mit mir über Fotografie zu sprechen. Und Schramm aß, obwohl sie ihm nicht besonders schmeckten, von ihren Butterplätzchen, eines nach dem anderen nahm er und kaute, indes ihm nur Unbestimmtes im Kopf herumging und keine geeignete Antwort. Stattdessen die Landheimfahrt, im achten Schuljahr, als Waidschmidt an der Hand geblutet hatte nach einem unter den Kindern damals beliebten Kartenspiel. Es funktionierte nach einfachen Regeln. Abwerfen, so schnell man kann, hatte Waidschmidt erklärt, indem er die Kratzwunden auf seinem Handrücken betastete: Der Letzte verliert. Am Schluss in der Mitte ein Stapel Karten und daneben die Verliererhand. Bei Pik ein Schlag mit der Faust, bei Karo Rubbeln und Zwicken bei Kreuz, erläuterte Waidschmidt, stillhaltend, während Schramm die Kneif- und Kratzstellen bepinselte mit Mercuchrom. Und nicht fragte, wie einer mit Waidschmidts geistigen Fähigkeiten gleich mehrmals hatte verlieren können bei einem derart simplen Spiel. Bei Herz wird gestreichelt, und das ist das Schlimmste, sagte der Vierzehnjährige, wenn sie einen streicheln und Geräusche machen, das ist schlimmer, sagte er, als ein Schlag mit der Faust. Aber da noch hatte er etwas regelrecht Begeistertes um sich gehabt, wie Schramm sich erinnerte, war ein Strahlen über dieses Gesicht gegangen, Verzückung. Doch damit konnte Schramm dieser Mutter nicht kommen, noch weniger als mit den ärgerlichen Fotografien. Und er verstand selbst nicht mehr, was er sich von diesem Besuch versprochen hatte, wozu er überhaupt gekommen war.
Er hatte sich herausgehalten, wenn im Lehrerzimmer über Waidschmidt geredet worden war, über seine Verhaltensweisen und die Verhältnisse, aus denen er kam. Allein dieses Heraushalten, das ist leicht auszurechnen, war Anlass genug, damit das Flüstern anfing, damit geschwiegen wurde, wenn er zufällig das Lehrerzimmer betrat.
Und obwohl es ihn nur missmutig machte, hörte Schramm zu, wenn über Waidschmidt geredet wurde. Etwas Überspanntes, wurde gesagt, habe dieser an sich, darin kamen die allermeisten überein, fanden schon früh in seiner ausgesuchten Höflichkeit etwas Unaufrichtiges, nicht ganz Gesundes.
Stahlschlank trabte er die Aufwärmrunden der Fußballmannschaft mit am äußeren Rand der Aschenbahn. Den Übrigen rann der Schweiß. Unbedingter Wille, den Vorstellungen anderer zu entsprechen, trieb Artur Waidschmidt an. Genauer gesagt: dem Bild, das er sich von Vorstellungen der anderen machte. Es kamen einige ganz abwegige Ideen darin vor. Mehr als einmal hatte er sie Schramm auseinandergesetzt, wenn er ihm wieder in das Kartenzimmer gefolgt war. Er hatte sich nicht fortschicken lassen. Von Anfang an hatte er Schramms Nähe gesucht, und nachdem er sich seine Feinde gemacht hatte, ihn, den Lehrer, anscheinend immer noch heftiger verehrt. Und Schramm konnte nicht sagen, dass es ihm ausschließlich unangenehm gewesen wäre. Tatsächlich zog er Waidschmidts Gegenwart der anderer entschieden vor, und es
Weitere Kostenlose Bücher