Große Ferien
einen wie Waidschmidt überhaupt erst bewogen hatte, abzusehen von seiner über die Jahre mit Entschiedenheit durchgeführten abgesonderten Existenz. Was tut es zur Sache, fragte Waidschmidt, wenn ich fragen darf.
Kurz vor den Prüfungen, als die Achtzehnjährigen, bis es hell wurde, zum Trinken auf der Wiese am Weiher saßen, die ganzen kurzen Nächte bei Schnaps und Schwüren im nassen Gras um ein Feuer herum, und selbst solche, die einander noch vor kurzem kaum angeschaut hatten, sich fürs Leben verbrüderten, gerade eben, bevor sie für immer auseinander gehen sollten. Da hatte Waidschmidt begonnen, sich in der Nähe gewisser Gruppen aufzuhalten. Das sollte er ruhig tun. Das war nichts Besonderes, nicht das erste Mal, das wusste Schramm und kannte sich doch nicht mehr aus.
Wie Waidschmidt es angestellt hatte, sich derart beliebt zu machen in kürzester Zeit, musste man sich fragen, wie er es dahin gebracht hatte, dass es einem Mädchen wie diesem offenbar nicht unangenehm war, gesehen zu werden mit ihm, wenn er vor den Tennisplätzen auf sie wartete, ihre Hand in seine nahm, sie im Gehen weit vor und zurückschwingen ließ. Das hätte Schramm gern gewusst. Was sie denn miteinander redeten. Dieses und jenes. Waidschmidt strich mit durchgestrecktem Daumen eine Furche durch das neuerdings länger gewachsene, in die Stirn fallende Haar, dieses und jenes reden wir, gab er zur Antwort und sah neben sich, zum Lichtrechteck an der Wand zwischen zwei Regalen, in seinen Augen ein eigenartiger Glanz.
M it fünfzehn hatte der Bruder sein erstes Mädchen gehabt, ein großes gelbhaariges Mädchen mit auffallend kleinen Händen. Kurz darauf ein anderes, zierlicheres, dann wieder eine andere, es wollte einem vorkommen, als hätte es bis heute kaum eine Pause gegeben. Nach dem Unfall des Vaters hatte es angefangen, wie ja überhaupt eine Reihe von Veränderungen mit dem Bruder vor sich gegangen war in unmittelbarer Folge des Unglücks. Vom einen auf den anderen Tag verschwunden war sein lästiges Zwinkern. Er blieb bleich und mager, doch für die Bücher, in denen er nächtelang las, schämte er sich nicht mehr, er zitierte aus ihnen gefragt und ungefragt. Und erklärte, warum das Leben und die Angelegenheiten der Menschen ganz anders geordnet werden sollten. Er fing Streit an mit seinen Lehrern und kaufte sich ein Motorrad. Aber keine dieser Äußerlichkeiten konnte seine Erfolge ganz erklären; wie auf der anderen Seite unverständlich blieb, was ihn an jenen Mädchen jeweils reizte. Sie interessierten sich nicht für seine Theorien. Und auch wenn sie beim ersten Hinsehen gefällig wirkten, mit ihren dünnen Strümpfen, ihren gefeilten Nägeln, bemerkte man schnell einen oder mehrere Fehler, so dass sich ein unschöner Gesamteindruck, etwas im Ganzen Grobes ergab.
Einmal hatte Schramm erlebt, wie Viktor eine Frau verlassen hatte vom einen auf den anderen Tag, danach lange einsam und, wie es schien, nicht glücklich gewesen war. Sie hatten in derselben Stadt gewohnt zu der Zeit, und mehrmals in der Woche hatte er den Bruder zum Mittagessen eingeladen in immer dasselbe dalmatinische Wirtshaus, zwei Gehminuten vom Gymnasium. An die Fahrradständer vor dem Kaiserzeitbau gelehnt, wartete Viktor, zeitweilig fast täglich, mit seiner Pfeife, seinem hochgeschlossenen Strickpullover. Seinem Bart. Wie die anderen Lehrer ihnen nachgesehen hatten, wusste Schramm noch gut. Es war ihm nie wohl gewesen damit, feierlich, aber nicht ganz wohl. Ebenso mit dem Verhalten des Wirts, der ihnen nach dem Grillfleisch geschenkte Schnäpse bringen ließ, einen und noch einen. Über einem dieser Schnäpse, dachte Schramm, musste es dahin gekommen sein, dass er, nachdem sie eine gute Weile lang beieinandergesessen, gekaut und geraucht und wenig Wichtiges gesprochen hatten, das Glas auf den Tisch gesetzt, sich den Mund mit dem Handrücken abgewischt und gefragt hatte, habt ihr es denn gar nicht miteinander versucht. Wie Viktor daraufhin sein Gläschen auf dem Tischtuch hin und her gekippt hatte, dachte Schramm, endlich, in einem fort an diesem Gläschen fingernd, lang und viel geredet hatte, ohne die Frage zu beantworten, er berührte sie nicht einmal. Von der Ehe der Eltern redete Viktor, die doch für keinen der beiden zum Aushalten gewesen sei, für den Vater nicht und die Mutter schon gar nicht. Wie sie einander zugerichtet haben, sagte er, einer den anderen. Und er sprach von dem Hund, den der Vater gehalten hatte und innig geliebt. Einen
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