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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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auseinander gewesen ist.
    Zum Beispiel hatte der Bruder ihm kürzlich erst erzählt von einer Englandreise, die er in den großen Ferien, mit fünfzehn, unternommen habe, zu einer Zeit also, da sie beide noch bei der Mutter gewohnt hatten, doch konnte Schramm sich weder an sein Fortsein erinnern noch an seine Rückkehr.
    Er hatte nicht groß gefehlt. Nicht, nachdem er das Elternhaus Hals über Kopf verlassen hatte und für Jahre fortgeblieben war. Schramm konnte nicht sagen, wie lange. Ohne erklärten Grund hatte Viktor vor der Tür im Studentenheim gestanden: Er müsse bleiben, er habe sonst nichts. Und er rollte seine Drillichdecke neben dem Bett aus, wo er nachts schlief, tags hüllte er sich in sie, wie in eine Kutte, ein. Eine Frauengeschichte, dachte Schramm, doch beredet hatten sie es nicht. Immer nur seine Angelegenheiten hatten sie besprochen, oder ganz außerhalb Liegendes, nichts geklärt, was den Bruder betraf. Aber das verstand er erst hinterher, nachdem Viktor, ohne zu sagen, wohin, wieder verschwunden war. Geradezu geschwätzig war Schramm geworden, als der Bruder ihn ausgefragt hatte über seine Arbeit, hinreißen lassen hatte er sich, so musste es genannt werden, zu weder verständlichen noch interessanten Erklärungen. Vom Bruder nichts. Wegen einer Frau, konnte Schramm nur vermuten, war er gekommen, von einer dummen Geschichte zu ihm angespült. Oder einer viel heikleren Angelegenheit wegen. Einmal wollte Schramm ihn zur Rede stellen. Ein Anrecht, wollte er sagen, er hatte ein Anrecht darauf, zu wissen, wovor sein Bruder auf der Flucht war, ob bald die Polizei vor der Tür stünde. Viktor würde alles kleinreden, das war gewiss, schon während Schramm sich zur Probe die Sätze nur vorsprach, hörte er ihn schon: Was hast du denn für Ideen, was stellst du dir eigentlich vor. Er würde ihn auslachen, wahrscheinlich zu Recht.
    Am hellen Tag war der Bruder zu ihm in das Wohnheimzimmer gekommen, mit der Stadtbahn, ohne Verkleidung und ohne Eile. Nicht wie einer, der fliehen musste, dachte Schramm. Aber die Zweifel waren geblieben, kleine, genügsame Gedankenwürmer. Und schon hatte er selbst angefangen, sich zu verhalten, als gäbe es etwas zu verbergen. Nur heimlich betrachtete er die Fahndungsplakate, sie hingen an jeder Ecke, er kannte sie gut. Viel zu gut kannte er sie, die versprochene Belohnung, die Mahnung zur Vorsicht vor Schusswaffen unter den akkurat gereihten, nicht besonders deutlichen Porträtfotografien. Er wusste, wie sie aussahen, die Gesichter, er hatte sie genau studiert, dem Bruder glich keines, nicht im Entferntesten. Es gefiel ihm nicht, dieses Ahnen und Zweifeln, aber wenn es auch störte, schadete es wenigstens nicht, und solange niemand etwas sagte, war auch nichts passiert. Darum belog er die Mutter, wenn sie nachfragte, darum gab er, begeistert und ausführlicher als nötig, Antwort, wenn der Bruder sich mit ihm über das in die Maschine gespannte Blatt beugte und fragte, was er da eigentlich ausrechnete und was er schrieb.
    Ohne Menschen werde das Leben leer, ohne Sprechen der Mensch dumm, heißt es, doch das bedeutet nicht, dass das Leben mit Menschen ein erfülltes, der Mensch im Sprechen klüger wird. Der Mensch kann auch und gerade in Gesellschaft anderer immer dümmer werden. Er musste nur an den Bruder denken, seine Besuche, und wie sie alle Gedanken an Arbeit mit sich fortnahmen. An die Mutter, ihr Tappen am Morgen, im Zimmer unter ihm, wenn sie aufgestanden war, sich zu erleichtern, die Kette zog. Er hatte alles hören können, die Böden und Decken waren dünn. Es braucht einen nicht zu stören, aber man kümmert sich doch, noch wenn es vorbei ist, horcht einer und kümmert sich. Sie sollten nicht allein bleiben, hatte der Pfarrer gesagt, aber darum war es nicht gegangen, gekommen war er, um die Feierlichkeiten zur Beisetzung zu besprechen. Das sagst du zu jedem, hätte man ihm erwidern müssen, dachte Schramm. Besser, der Bruder wäre auch dabei gewesen. Zu zweit hätten sie dem Pfarrer schon etwas erzählen können. Ein Schramm links, der andere rechts, ein Wort hätte das andere gegeben. Kaum dreißig war der Pfarrer gewesen, vielleicht noch nicht einmal ein richtiger Pfarrer, noch ein Vikar, die Wangenknochenhaut rosa nach einer Fahrradfahrt durch die zugige Landschaft.
    Kaum zur Tür heraus, dachte Schramm, wäre der gewesen, kaum den Hang hinabgefahren, und sie hätten einander nur anzusehen brauchen. Nur ansehen, ein paar Stichworte geben, dachte Schramm und

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