Große Ferien
Deutschen Vorstehhund, das erinnerte Schramm selbst genauso gut, eine Hündin, Diana hatte sie geheißen. Lebhaft sah er vor sich, wie sie beim Tollen im Garten plötzlich hingestürzt war, im Vorderlauf zuerst eingeknickt, dann hingestürzt, in Krämpfen, mit zappelnden Läufen, liegen geblieben war. Ein klarer Schnitt, erklärte der Vater, bevor er morgens mit ihr zum Waldrand fuhr, kaum eine Stunde später die Leine in den Keller trug, seine Hände wusch und beim Mittagessen mit unverändertem Appetit seine Klöße in Soße tunkte. Noch heute kann ich keine Klöße essen, sagte Viktor, ohne dabei unseren Vater zu sehen, wie er den Hundekopf streichelt, ohne dazu ihn zu hören, wie er daherredet, vom Vermeiden unnötiger Härten, vom mitunter notwendigen kurzen Prozess.
Mit Erstaunen, allerdings einem ganz vorsätzlich zurechtgelegten, künstlichen Staunen, dachte Schramm, hatte der Bruder geantwortet auf die Frage, was diese Geschichte zu tun hatte mit seiner letzten Frau und warum er ihrer müde geworden war. Ja wenn man das nicht versteht, hatte er gesagt. Dann weiß ich auch nicht. Und er stocherte im Kopf seiner Pfeife herum. Aber man muss nicht denken, dass Schramm in diesen Dingen völlig unerfahren wäre. Wann immer er eine kennenlernte und etwas in der Luft lag mit ihr, kamen bald die Bedenken. Und er dachte daran, wie er selbst einmal mit einer durch den Park gegangen war, Hand in glühender Hand. Er sah sie gehen, Sonne auf ihrem Scheitel, auf den Kunstfasermaschen ihres Kleids. Hoffentlich, hatte er damals gedacht, geht es schnell, denn wenn es alles rasch ablief, änderte man auch die Meinung nicht mehr. Aber er konnte nicht entscheiden über dieses kleine schlechte Gefühl, sie betreffend, das neben einer Kette anderer Gedanken in ihm gewachsen war. Er verabredete sich mit ihr, zum Kino, zum Kaffee, er besuchte sie auf ihrem Zimmer und fast wäre es bis zum Äußersten gegangen. Darüber hätte man sich unter Brüdern austauschen können, über solche Dinge hätte auch er etwas zu sagen gehabt. Er wusste nicht, was zwischen ihnen stand. Und sosehr er suchte, kam er doch nie auf den ursprünglichen, reinen Zustand, gab es hinter jedem Vorgefallenen etwas, das erst dorthin geführt hatte und dahinter wieder etwas und so fort. Nicht anders als bei einer Messreihe, die man ausweiten und präzisieren kann, solange man Lust hat, ohne dabei zum wahren Wert zu gelangen, den man auf eine beliebige Nachkommastelle immer nur zu schätzen, nie genau zu ermitteln vermag.
Unzertrennlich, hatte es über die Brüder in der Kindheit geheißen, und vermutlich hatte es sich beim ungenauen Hinsehen so ausnehmen müssen, dachte Schramm, wenigstens war Viktor ihm auf Schritt und Tritt gefolgt. Und hatte sich schicken lassen, Zweige und Blätter zu sammeln, um für die Schnecken eine Einfriedung zu bauen, hatte mit ihm zusammen, folgsam erschreckt, aufgeschaut, ausgerufen: Du Depp!, wenn Peter Schlaudt von nebenan schweigend und schauend hinter der Hecke stand, die Streifen seines Pullovers ihn durch das Blattwerk verrieten, Schrecktracht eines giftigen Insekts.
Zweitrangig, ob schön oder groß, nur einen eigenen Platz hatte Schramm sich ersehnt, einen wenigstens halbwegs geschützten Bau. Darum hatte er diesen nicht besonders hübschen, vom Vater aufgeschütteten, von Taubnesseln bewachsenen Erdhügel gewählt. Der Vorderseite durfte Viktor sich nähern, der Rückseite nicht. Nichts Unübliches, dachte Schramm, war an diesem Verhalten. Derartiges spielt sich zwischen Geschwistern ab. Die Phantasien, laut geäußert, den anderen verhungern oder aus dem Fenster stürzen zu lassen, die Eifersüchteleien und grimmigen Kämpfe, gedachte und geführte, wie sie nur von Kindern gedacht und geführt werden können, mit ihrem Fordern bedingungsloser Gerechtigkeit. Die sich mit dem Erwachsenwerden abnutzen muss, sich eintauscht gegen einen Wirklichkeitssinn, damit man nicht mehr so glühend wünscht, nicht mehr so heftig enttäuscht wird wie das Kind. Und ist es dieses Triebsterben, das nicht nur die Wünsche auskühlen lässt, sondern auch den nächsten Feind und Gegner blasser, weniger wichtig macht? Oder waren sie in Wahrheit nie wichtig füreinander gewesen, nicht wichtiger, als es eben einer ist, der täglich neben einem einschläft, täglich dort aufwacht, der kleine Schatten, der einem folgt, so wenig besonders, dass man auch sein Verschwinden nicht bemerkt, später nicht zu sagen weiß, wie lange man eigentlich
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