Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba
Stelle abgelaufen, an der sie in die Dunkelheit geschaut hatte, und sie hatte nach Schafsblut Ausschau gehalten. Gefunden hatte sie nichts, nicht einmal abgerissene Äste. Mittlerweile senkte sich die Dämmerung über den Wald und beschwor graue Schatten zwischen den Bäumen herauf. Bald schon würde ihr Onkel ihre Abwesenheit bemerken. Sie durfte sich nicht mehr lange hier herumtreiben.
Behutsam zog sie das Buch mit dem Zeichen der Drachen aus ihrer Tasche und überflog zum wiederholten Mal die Notizen ihres Vaters. Warum, verflucht noch eins, hatte er denn nirgendwo auch nur den leisesten Hinweis darauf gegeben, wie man einem Drachen auf die Spur kommen konnte? Waren sie etwa einfach an ihm vorbeigeflogen wie Spanferkel mit einem Apfel im Maul, bereit, sich vernichten zu lassen, wenn er sich nur bequemte, den Blick gen Himmel zu richten? Sie blätterte vor bis zum Drachentöter und löste die Riemen. Wie sollte sie diese Waffe einsetzen, wenn es ihr noch nicht einmal gelang, das Untier zu finden? Gerade hatte sie die Hand nach der Schuppe ausgestreckt, als ein Rascheln im Dickicht sie zusammenfahren ließ. Das Buch rutschte von ihren Knien, und als sie nach der Waffe griff, schnitt sie sich in den Finger. Seufzend verdrehte sie die Augen. Sie war in der Tat eine Drachenjägerin, wie die Welt noch keine erlebt hatte. Zuerst irrte sie sinnlos durch den Wald, dann hockte sie mit einer Gewitterwolke über dem Kopf auf einem Mooskissen, und zu guter Letzt schnitt sie sich wieder einmal an der Waffe, die sie eigentlich gegen einen Drachen richten wollte, einen Drachen, der …
Sie unterbrach ihren Gedanken, als ein Glimmen durch die Schuppe ging und sich zu glühenden Funken sammelte, genau an der Stelle, an der ihr Blut die Schneidkante bedeckte. Die Funken tanzten über ihre Finger, flogen kurz durch die Luft und glitten dann in raschen Sprüngen über den Waldboden. Dabei zogen sie ein Geflecht aus filigranen Äderchen hinter sich her, die sich in kristallenem Licht über Wurzeln, Moos und Felsen ergossen. Bald schon führte ein glitzernder Pfad ins Unterholz, und Rima hielt den Atem an, als sie den Vogel sah, der vollkommen unbeeindruckt von dem Schauspiel auf einem Ast hockte und nicht davonflog, obwohl das wurzelgleiche Netzwerk dicht an ihm vorüberzog. Offensichtlich nahm das Tier es nicht wahr. Rima spürte den Schmerz in ihrer Handfläche noch immer, trotzdem breitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht aus, als sich zarte Blumen und Ranken aus dem Lichtgeflecht erhoben. Ihr Blut hatte diesen Zauber erweckt, der vor ihr erblühte wie eine Verheißung – nur sie konnte ihn sehen. Schnell rappelte sie sich auf und wollte gerade einen Fuß auf den glimmenden Boden setzen, als ein Knacken hinter ihr sie zusammenfahren ließ.
Erschrocken wandte sie den Blick, und kaum, dass sie das glimmende Adernetzwerk aus den Augen verlor, erlosch es in der Dämmerung. Sie zog die Brauen zusammen. Angestrengt spähte sie ins Dickicht, dorthin, woher das Geräusch gekommen war. Die Nacht zog herauf; Rima wusste, welche Gefahren außer Drachen und ärgerlichen Onkeln noch in ihren Schatten lauerten, und sie atmete so langsam wie möglich durch, um ruhig zu bleiben. Gerade wollte sie sich erneut der Schuppe in ihrer Hand zuwenden, als Wolfsgeheul die Luft zerriss. Seit Wochen hatte es keine Wölfe mehr in diesem Teil des Nachtwaldes gegeben. Rima blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Schon hörte sie ein gieriges Hecheln aus zahlreichen Kehlen, das sich unnatürlich schnell näherte. Sie schreckte vor dem Geräusch zurück – da ging ein Rascheln durch die Bäume … und ein Wolf trat aus dem Unterholz. Rima schauderte. Noch nie hatte sie einen Wolf von dieser Größe gesehen. Das Tier war pechschwarz, sein Fell sträubte sich im Nacken, und als es knurrte, ging ein Raunen durch die Erde. Rima wich zurück, als Glut aus dem Boden brach und sich in dunklen Adern über seine Beine zog. Aus dem Augenwinkel nahm sie die anderen Tiere des Rudels wahr; mit tief geneigten Köpfen starrten sie zu ihr herüber, und als der Wolf vor ihr den Kopf in den Nacken warf und heulte, entzündete sich die Glut auf ihren Leibern zu schwarzem Feuer.
Die Hitze traf Rima wie ein Schlag gegen die Brust. Sie taumelte rückwärts, und einen Moment lang meinte sie, den Leitwolf grinsen zu sehen. Dann warf sie sich herum und rannte los. Krachend brachen die Tiere hinter ihr durch die Büsche, und als sie einen Blick über die Schulter warf, sah sie,
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