Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba
wie der Boden sich unter ihren Schritten mit Flammen überzog. Die Wölfe trieben Rima vor sich her wie Schlachtvieh. Der Waldrand tauchte nicht weit von ihr entfernt auf – plötzlich ballten sich die Geräusche der Wölfe zu einem lauten Rauschen zusammen. Rima spürte die Glut übermächtig in ihrem Rücken, und als sie mit einem Schrei aus dem Dickicht des Waldes sprang, umfing sie die Kühle der Dämmerung mit eisigem Hauch.
Heftiges Donnern zerriss die Luft und warf sie auf den Rücken. Die Wölfe waren ihr nicht gefolgt. Regungslos standen sie zwischen den Bäumen. Der Leitwolf schaute zu ihr herüber. Dabei legte er den Kopf schief, und als er sie mit diesem seltsam starren Ausdruck ansah, tauchte ein Bild in ihr auf wie eine Erinnerung. Rima hatte dieses Tier schon einmal gesehen. Doch ehe sie diesem Gedanken nachgehen konnte, entfachte sich eine tiefschwarze Glut im Inneren der Bäume, zog sich knisternd wie ein Geschwür durch ihre Stämme und setzte sie in tosende Flammen. Kurz sah Rima, wie das brennende Fell der Wölfe mit der Umgebung verschmolz. Dann fand sie sich vor einem Wald aus Feuer wieder.
Die Schuppe in ihrer Hand linderte die Hitze, die ihr entgegenschlug, doch kaum fühlte sie deren Kälte, da überfiel ein Schrecken sie mit aller Macht. Sie hatte das Buch ihres Vaters auf dem Moosbett liegen gelassen! Instinktiv trat sie auf die Flammen zu, die wie bissige Schlangen nach ihr züngelten. Dieses Feuer würde sie töten, wenn sie sich ihm näherte, es würde … Ein mächtiges Rauschen unterbrach ihren Gedanken. Sie sah noch die Glutwirbel, die aus den Ästen traten und über die Wiese fegten, und spürte ihre knisternden Funken. Dann brach ein Reiter durch die Bäume. Sein Pferd brannte, Flammen zogen sich über seinen Körper, doch als er unmittelbar vor Rima landete und Funken unter den Hufen seines Pferdes aufstoben, erblickte sie sein Gesicht und hielt den Atem an.
Es war Kayron, der da vor ihr stand.
Er lachte schallend, als der Leitwolf hinter ihm aus den Flammen sprang und sein Leib sich wieder in den eines räudigen Köters verwandelte. Rima empfand jeden Ton wie eine Ohrfeige. Sie wich vor ihm zurück, als er lautlos von seinem Pferd sprang. Die Flammen züngelten über seine Haut, ohne ihn zu verbrennen, und es bestand kein Zweifel mehr: Er hatte dieses Feuer geschaffen.
»Was hast du hier zu suchen, Tochter eines Narren?«, rief er gegen das Rauschen der Flammen an. »Willst du verbrennen in meiner Glut? Niemand hält ihr stand, nicht einmal ein Drache! Oder willst du mich in die Silberberge begleiten? Du würdest verrückt werden angesichts der Schrecken, die dich dort erwarten, vom Ziel meiner Jagd ganz zu schweigen!«
Wenige Schritte von ihr entfernt blieb er stehen und zog etwas aus seinem Mantel. Rima stockte der Atem, als sie es erkannte. Es war das Buch ihres Vaters. Sie trat einen Schritt vor, aber sofort loderten die Flammen auf Kayrons Körper auf und schlugen nach ihr, ohne dass er sie überhaupt ansah. Sein Blick ruhte auf dem Buch. Achtlos schlug er es auf. Seine glühenden Finger versengten die Seiten, doch Rima brachte keinen Ton über die Lippen. Zu deutlich spürte sie auf ihrer Haut die Glut, die sie vernichten konnte – mit einem einzigen Atemzug. Kayron hob den Blick, als hätte er diesen Gedanken gehört. Das Lodern seiner Augen schnitt Rima ins Fleisch.
»Vielleicht hätte dein Vater Maler werden sollen«, meinte er mit kaltem Lächeln. »Dafür hatte er augenscheinlich mehr Talent als für die Jagd.« Das Lächeln verschwand von seinen Lippen, und er ließ das Buch fallen wie ein wertloses Bündel Papier. Kaum dass es auf dem Boden aufschlug, trat er zurück, und Rima stürzte auf das Buch zu. Eilig nahm sie es an sich und schaute mit rasendem Herzen zu Kayron auf. Sein Blick ruhte mit unbewegter Grausamkeit auf ihr. »Ich sage es dir nur einmal«, raunte er gefährlich leise. »Solltest du es noch einmal wagen, meine Jagd zu behindern, werden meine Flammen dich bis in dein Dorf zurücktreiben. Ich kann mir die Begeisterung deines Onkels lebhaft vorstellen, wenn er von deinem Ausflug erfährt. Dies ist kein Platz für ein Kind wie dich. Lauf! Lauf nach Hause, Halblingsblut!«
Der Name traf sie wie ein Faustschlag. Sie taumelte rückwärts, als er sich auf sein Pferd schwang. Ohne ein weiteres Wort hielt er auf den Wald zu und verschwand gemeinsam mit seinem Köter mit einem mächtigen Sprung in den Flammen. Erst als das Beben seines Galopps
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