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Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Titel: Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hardebusch
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die ihre Finger überzog, und gleich darauf die raue Oberfläche von Metall. Im nächsten Augenblick zerriss ein Blitz ihre Gedanken; einen Wimpernschlag lang fand sie sich in einem Festsaal wieder. Tanzende Menschen in wehenden Kleidern bewegten sich um sie herum – Rima konnte sie so deutlich sehen, als wären sie wirklich da. Erschrocken riss sie die Hand zurück. Das Bild zerbrach, und sie war wieder in der Höhle, doch der Glanz hatte seinen Schein verringert, und nun sah sie, dass es keine Juwelen waren, die dort vor ihr lagen, keine Goldstücke, Schatztruhen oder prunkvolle Waffen. Stattdessen wanderte ihr Blick über Gemälde mit zerrissenen Leinwänden, Spieluhren, die ihre Farbe verloren hatten, zerfallende Bücher, Statuen mit zerfressenen Gesichtern, alte Holzpferde und Puppen und immer wieder Spiegel, zerbrochen, blind oder zerkratzt, in jeder Form und Größe. Am Rand der wirr durcheinandergewürfelten Dinge lag ein verbogener Kerzenleuchter – ihn hatte Rima berührt, und sie hörte noch immer die Musik, die den Festsaal erfüllt hatte wie ein lang vergessener Geruch. Unhörbar flammte die goldene Glut auf, die in den Gegenständen lag, und erhob sich in farbigen Schemen aus ihrem Inneren in die Luft. Rima hielt den Atem an, als sie zu bewegten Bildern wurden und wie wehende Tücher durch die Höhle glitten. Sie spürte die Strahlen der Sonne, die aus einem purpurnen Himmel fiel, sie roch die Blumen auf einem Feld aus Asche, und als sie die Hand durch einen bunten Vogelschwarm zog, blieben die Farben wie Wasser an ihren Fingern haften. Rima schauderte, so wunderschön waren die Bilder, die sie sah. In tausend Farben legte sich das Licht auf ihre Haut, und als sie die Blüten eines Baumes über ihr Gesicht tanzen fühlte, lächelte sie. Wie viele Geschichten hatte sie über den Hort eines Drachen gelesen, wie viele Sagen über die unendlichen Reichtümer gehört, die diese Wesen in ihren Höhlen anhäuften – und wie viel kostbarer war das, was sie an diesem Ort gefunden hatte! Es waren Erinnerungen, die sie umwehten, vergessene Träume, zerbrochene Ideen, verlorene Gedanken, und Rima wollte gerade das Bild eines schneeweißen Sterns berühren, der in der Finsternis schwebte, als sie die Kälte wahrnahm, die plötzlich über den Boden auf sie zukroch. Lautlos legte sich der Frost auf die Bilder ringsum; feine Eisblumen breiteten sich darüber aus und ließen sie erstarren. Mit stockendem Atem zog Rima die Hand zurück, und noch ehe sie sich umdrehte, wusste sie, was geschehen war. Hinter ihr stand der Drache.
    Er war so groß, dass seine Schwingen bis zur Decke reichten. Seine Schuppen warfen das Licht des Goldes zurück und erstrahlten in einem unwirklichen Glanz. Seine Klauen hatten sich in den Stein der Höhle gekrallt, als bestünde dieser aus weichem Fleisch, und aus seinem Maul ragten messerscharfe Zähne. Für einen winzigen Augenblick kam Rima der Gedanke, sich einfach fallen zu lassen und tot zu stellen – in der Hoffnung, das Untier ließe sie als wertlosen Unrat liegen. Doch dann spürte sie die Kälte der Schuppe in ihrer Hand, und sie besann sich. Sie war kein schwacher Halbling, der unfreiwillig in eine brenzlige Lage geraten war, verflucht noch eins. Sie war das Kind eines Drachenjägers, sie hatte Kayrons Feuer bezwungen, und sie war …
    In diesem Moment neigte der Drache den Kopf. Kaum sah er sie direkt an, da vergaß sie alles, was sie war. Die Dunkelheit seiner Augen wallte auf und umfasste ihre Kehle wie eine Totenhand. Die Konturen der Höhle verschwammen um sie herum. Lähmend raste Kälte durch ihre Glieder, und Rima fühlte, wie nackte Angst ihre boshaften Klauen in ihren Nacken grub. Der Drache trat auf sie zu. Er beugte sich über sie, und sein Schatten hüllte sie in eine Finsternis, die nur vom Gold seines Leibes durchbrochen wurde und ihr fast die Luft raubte. Schon hörte sie das Grollen des Drachenfeuers, das tief in diesem gewaltigen Körper loderte, diese Glut, die sie verbrennen würde wie eine Figur aus Papier – und doch konnte sie sich nicht von dem Untier abwenden. Irgendetwas hielt ihren Blick gefangen, und es war nicht nur seine majestätische Gestalt, auch nicht das Feuer, das lautlos über seinen mächtigen Körper strich. Irgendetwas lag in seinen Augen, etwas wie … Rima zog die Brauen zusammen, während sie nach dem richtigen Wort suchte, doch ehe sie es finden konnte, zerriss ein gleißendes Licht ihre Gedanken. Zischend raste es durch die Luft –

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