Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Titel: Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hardebusch
Vom Netzwerk:
zusammengesunken und hustend. Er hatte sie nicht bemerkt, doch sie hatte das Blut in seinem Taschentuch gesehen, und sie erinnerte sich auch an den Schrecken in seinem Blick, dicht gefolgt von der Sorge, als er den Kopf gewandt und sie angesehen hatte. Schweigend hatte er sie in den Arm genommen und geweint. Sie fühlte seinen mageren Körper so deutlich, als bräuchte sie nur die Hand auszustrecken, um ihn zu berühren. Nie hatten sie darüber gesprochen, was geschehen würde, und das war auch nicht nötig gewesen. Denn Rima hatte es gespürt, so stark, dass es ihr noch immer die Kehle zusammenschnürte, wenn sie daran dachte.
    Die Zeichnungen flogen unter ihren Fingern vorüber, aber Rima nahm sie kaum wahr. Sie sah ihren Vater an ihrem Bett sitzen, an jenem Abend, als er zur Klippe gegangen war. Der Himmel hatte in Feuerfarben gestanden – immer schon hatte ihn solches Wetter auf die Klippe gezogen, und die Meerluft tat ihm gut, das wusste sie. Und doch hatte etwas in seinen Augen sie dazu gebracht, seine Hand festzuhalten.
    Warum gehst du hinauf zur Klippe?, hatte sie ihn gefragt, und er hatte gelächelt, sanft und traurig.
    Es gibt Dinge, die man tun muss , hörte sie ihn antworten. Sonst ist man nicht mehr im Leben als ein Blatt, das der Wind davonweht.
    Er hatte sie auf die Stirn geküsst und ihre Hand losgelassen. Dann war er gegangen und nie zu ihr zurückgekehrt.
    Rima holte tief Luft, als sie die letzte Seite umblätterte, und da, leicht schimmernd im ausgeschnittenen Rücken des Buches, lag eine silberne Drachenschuppe. Sie war so groß wie Rimas Faust und abgesehen von dem schmalen Horngriff so scharf, dass sie Stein, Knochen und jeden Panzer zerschneiden konnte. Stärker als Drachenblut und jede Tücke eines Sterblichen , hatte ihr Vater immer gesagt, und Rima nickte langsam. Der Drachentöter.
    Sie streckte die Hand nach der Waffe aus, und kaum traf das samtene Silberlicht ihre Haut, sah sie die Klippe an jenem Morgen vor sich, nachdem ihr Vater sie verlassen hatte. Schwarz war sie gewesen vom verbrannten Leib des Drachen, und sie hatte den Ring ihres Vaters auf dem Findling entdeckt, schmal und glänzend wie ein Abschiedsgeschenk.
    War es nicht der Atem des Schwarzen Drachen, der ihm zum Verhängnis wurde? Rima zog die Brauen zusammen und verdrängte Kayrons Stimme aus ihren Gedanken. Nein, so war es nicht gewesen. Der Drache hatte ihren Vater gefunden, aber vernichtet hatte er ihn nicht. Ihr Vater hatte ihn getötet – er hatte das Kommen der Bestie vorausgesehen und seine Tochter ebenso wie das Dorf gerettet, indem er sein eigenes Leben opferte. Mit finsterer Miene betrachtete Rima das Bild des Jägers, das nun in ihr auftauchte. Er mochte die Schatten besser kennen als sie, aber er wusste nicht, was die Dunkelheit bedeutete, die ihr Vater an ihrem letzten gemeinsamen Abend im Blick getragen hatte – diese Schwärze, durch die er etwas sehen konnte, das allen anderen verborgen blieb.
    Vorsichtig löste sie die Riemen, die den Drachentöter in seinem Versteck hielten. Er fühlte sich schwer an in ihrer Hand und spiegelte ihr Gesicht. Kurz sah sie sich mit Bäckerschürze und Mehl in den Haaren. Instinktiv schlossen sich ihre Finger fester um die Waffe und rutschten vom Griff ab. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre Hand, und das Bild zerriss. Blut rann über ihren Arm. Sie spürte eine grausame Kälte, die der Drachentöter ihr in die Glieder schickte. Plötzlich war es, als würde sie noch einmal auf der Klippe stehen. Sie roch die rauchigen Ascheschwaden, die der Sturm durch die Luft trieb, und schaute nach Westen, dorthin, wo der erlöschende Himmel am hellsten war. Dieses Mal weinte sie nicht. Sie hatte gespürt, dass der Drache gekommen war – wie ihr Vater.
    Rima sah Kayrons spöttisches Gesicht vor sich. Noch während es zu Asche zerfiel, trat ein Funkeln in ihre Augen, das wie ein Versprechen war. Er mochte ein Jäger der Schatten sein, er mochte den ganzen verdammten Weg aus dem Süden gekommen sein, um den Drachen zu fangen, weil er meinte, der Einzige zu sein, der dazu fähig war. Aber vielleicht war das noch nicht alles. Vielleicht war er an diesen Ort gekommen, hierher an den Rand der Weißen Klippe, ans Ende der Welt, um nicht mehr zu gewinnen als dies: die Erkenntnis, im Irrtum gewesen zu sein.
    Rima ließ sich auf ein Moosbett fallen und seufzte tief. Seit Stunden hatte sie den Nachtwald nach Drachenspuren durchsucht. Sie war die mögliche Flugroute von Berrus’ Weide bis zu der

Weitere Kostenlose Bücher