Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
eines der Feuerwerke, die Alchimisten und Schausteller zu größeren Festen verschossen, um ihr Publikum zu begeistern. Wie es sich für eine anständige Rakete gehörte, die auf ihrem Höhepunkt in tausend bunte Blitzkugeln zerplatzte, spreizte das Gewitterhörnchen Vorder- und Hinterläufe ab und präsentierte die Flugbespannung. Wie ein Papierdrache schwebte das Tier in der Luft und ließ sich von den Aufwinden tragen. Nach einem Moment setzte der Nager zum Sturzflug an, hielt auf Milo zu, drehte im letzten Augenblick ab, schoss über den Rand der Schlucht und ließ sich in weiten Kreisen langsam tiefer sinken. Dann war es verschwunden.
Milo hatte genug von dem Unsinn. Er atmete tief durch, stemmte die nackten Füße fest gegen die Luftwurzeln der Trauerlinde und begann zu ziehen. Handbreit um Handbreit holte er es ein.
»Hohent och«, schallte es wieder aus der Schlucht, doch diesmal um einiges energischer.
Milo winkelte die Beine leicht an, fasste mit den Händen nach und presste die Beine mit aller Kraft durch. Es gab einen Ruck und einen erstickten Klagelaut seines Bruders. Milo mobilisierte die letzten Kräfte und zog an dem Seil, als ginge es um sein eigenes Leben, das an einem seidenen Faden hing.
Als sich die Hand seines Bruders am Rand der Schlucht zeigte und einen Wurzelstrang zu packen bekam, wusste Milo, dass sie es geschafft hatten. Er hätte schwören können, dass das Seil beim Einholen doppelt so lang war wie beim Herablassen, außerdem fühlten sich seine Arme an, als gehörten sie zu einem Troll.
Bonne rollte sich über den Abgrund und blieb erschöpft am Rand liegen.
»Ich glaube, es gibt bald ein Gewitter«, stöhnte er. »Diese dämlichen Hörnchen springen schon wieder von den Bäumen.«
Einen Moment lagen die beiden Halblinge da, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen, und starrten in den Himmel über sich. Die Luft war erfüllt vom süßen Duft des Waldes, und das Rauschen der Blätter in den Bäumen erinnerte an das Geräusch des Meeres.
Stöhnend drehte sich Bonne auf den Bauch, etwas weg vom Abgrund.
»Was ist denn an den Worten ›Moment noch‹ so schwer zu verstehen?«, schnauzte er seinen Bruder an.
Milo hob kurz den Kopf, ließ ihn aber sofort zurück ins Gras sinken. »Dieses alberne Genuschel hatte tatsächlich etwas zu bedeuten? Für mich klang es mehr nach einer Magenverstimmung.«
Bonne stemmte sich ärgerlich hoch, schaffte es jedoch nur in die Hocke, weil die Beine ihm den Dienst versagten. »Wie würde es sich wohl bei dir anhören, wenn dir ein Seil um den Bauch die Luft abschnürt und du gezwungen bist, dich mit den Zähnen an eine Baumwurzel zu klammern, um das Gleichgewicht zu halten?«
»Ich bewundere deinen Einfallsreichtum«, schnaubte Milo, »nur scheint er dir nicht viel genützt zu haben.«
Bonne grinste triumphierend und zupfte zufrieden an einem dünnen Band, dass um seinen Fußknöchel geknotet war und dessen anderes Ende sich über dem Abgrund in der Schlucht verlor.
»Du hast es tatsächlich geschafft?«, staunte Milo und sprang auf die Beine. »Lass sehen!«
Bonne schien es zu genießen, das Band Zoll für Zoll einzuholen. Gewollt langsam wickelte er es in fein säuberlich geordneten Schlaufen auf. Er zelebrierte es regelrecht wie die Ankündigung eines Magiers in einem Gauklervarieté.
»Tadaaa«, verkündete Bonne und zog seinen Fang aus den Tiefen der Schlucht.
Am Ende des Bandes hing eine tellergroße Schieferplatte, auf der sich ein seltsam aussehender Pilzschwamm festgesetzt hatte. Dieser äußerst seltene und skurril wirkende Waldbewohner nannte sich Blutmorchel. Er sah aus wie die herausgeschnittene Leber eines Dammhirsches, die man auf eine weiße Tropfkerze aufgespießt hatte. Erzählungen zufolge wuchsen diese Pilze nur an Orten, an denen das Blut eines gewaltsam zu Tode Gekommenen im Boden versickert war. Solche Geschichten rankten sich zuhauf um alle möglichen Pflanzen, Tiere oder seltene Minerale im Düsterkrallenwald, und kaum jemand gab etwas darauf, wie auch Bonne und Milo. Den Begriff Blutmorchel verbanden die beiden nur mit einem: mit Essen. Der dunkelrote Saft des Pilzes, der ihm auch den Namen verlieh, hatte einen nussigen Geschmack und ein leicht pfeffriges Aroma. Der Schwamm selbst war gebraten eine Köstlichkeit und wurde gern zu Wild gereicht oder als kaltes Appetithäppchen vorweg.
»Und, was sagst du?«, fragte Bonne, nachdem sie einen Moment gemeinsam den Pilz angestarrt hatten.
Milo zuckte mit den Achseln.
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