Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
Bruder«, erklärte Bonne trotzig und zog den letzten Riegel zurück.
Milo hätte gern noch etwas Schlagfertiges von sich gegeben, schließlich war die Auseinandersetzung mit seinem Bruder nichts anderes als ein Wettstreit der Worte, jedoch kam er nicht mehr dazu.
Das Gatter zum Pferch flog mit Wucht auf, knallte Bonne vor den Kopf und schleuderte ihn zurück. Der Halbling stürzte und blieb benommen liegen.
Ein dunkelbrauner Hengst schritt mit der Gelassenheit einer Raubkatze aus dem Gatter. Mit gebeugtem Haupt und durchgebogenem Rücken stand er schnaubend über dem am Boden liegenden Halbling. Blutgetränkter Geifer tropfte dem Pferd aus Maul und Nüstern. Die Augen waren milchig verfärbt, die Lefzen hochgezogen wie bei einem verwesenden Kadaver. Mit seinem halb entblößten Gebiss sah das Tier aus, als würde es grinsen. Ein Hinterlauf und die rechte Flanke schienen von schweren Verbrennungen oder Verätzungen entstellt. Die Haut war voller Bläschen und Schorf. Es schien, als witterte das Tier den kleinen und hilflosen Körper vor sich mehr, als dass es ihn sah. Bebend bewegten sich die Nüstern, und ein Huf stampfte gereizt auf den lehmigen Boden.
»Geh weg von ihm, du Scheusal«, schrie Milo und tat einen Schritt auf das Pferd zu, in der Hoffnung, es zurücktreiben zu können.
Der Hengst riss den Kopf hoch und stieß einen wiehernden Laut aus. Seine blinden Augen suchten nach dem Ursprung der Stimme und fanden ihn. Starr haftete sein Blick auf Milo.
»Zurück mit dir«, zischte Milo und zog drohend den Dolch aus dem Gürtel.
Halblinge und Pferde passten in etwa so gut zusammen wie Zwerge und Elfen. Dies mochte daran liegen, dass Pferde das kleine Volk eher als Packstück denn als Reiter ansahen und sich die Halblinge auf dem breiten Rücken auch so fühlten. Doch in diesem speziellen Fall war es mehr als nur eine Abneigung gegen die andere Rasse. In den blinden Augen des Hengstes spiegelte sich der blanke Hass wider.
Als Milo einen weiteren Schritt machte, scheute das Tier wiehernd und stieg auf die Hinterbeine. Die Vorderläufe schlugen durch die Luft und drohten Bonne unter sich zu zermalmen.
»Nicht«, schrie Milo und stürmte mit blitzender Klinge auf den Hengst los.
Mit jedem Schritt auf das Monstrum zu stieg ihm beißender Gestank der Verwesung in die Nase. Donnernd stießen die Hufe zu Boden und verfehlten Bonne nur um Haaresbreite. Der junge Boggar kam gerade wieder zu sich. Wie von Sinnen trat der Hengst auf der Stelle. Seine Hufe schienen nach etwas zu suchen, das sie unter sich zermalmen konnten.
»Zurück!«, schrie Milo abermals und stieß mit dem Dolch zu.
Eigentlich hatte er nur vorgehabt, das Tier leicht zu ritzen, um es zu verscheuchen, doch die Klinge verschwand wie in einem morschen Stück Holz bis zum Heft in der Brust des Hengstes. Erneut bäumte sich das Tier auf und tänzelte auf den Hinterläufen rückwärts.
Milo ließ den Griff seines Dolches los und wäre beinahe von einem der Hufe am Kopf getroffen worden, doch instinktiv klammerte er sich an den Pferdelauf und wurde mit in die Höhe gezogen. Der Hengst schien wenig Gefallen daran zu finden und schnappte nach dem Halbling. Krachend schloss sich der Kiefer nur eine Handbreit vor seinem Kopf. Geifer spritzte in das Gesicht des Halblings, und Milo verlor den Halt. Er stürzte zu Boden und schaffte es gerade rechtzeitig, sich zur Seite zu rollen, um nicht von den Hufen getroffen zu werden. Er führte einen Fuß hinter das Gatter und versetzte ihm einen Stoß, sodass es zuschwang. Der Hengst wollte es bereits wieder aufstoßen, doch Milo stemmte sich nun mit beiden Füßen gegen das Gatter und versuchte, das untote Tier in den Pferch zurückzudrängen. Die Tür des Holzverschlages drückte gegen die breite Pferdebrust und trieb den in ihr steckenden Dolch noch tiefer in das faulige Fleisch des Pferdes. Der Hengst wieherte auf. Milo trampelte weiter auf die Tür ein und trieb den dunklen Koloss rückwärts. Als dann endlich Holz auf Holz traf, sprang Milo auf, warf sich mit dem Rücken gegen die Tür zum Verschlag und schob eilig die Riegel vor. Bonne schien unverletzt. Er saß am Boden und starrte seinen Bruder an. Aus Milo wich langsam die Anspannung. Er sackte in sich zusammen und streckte die Beine aus, sodass sich ihre Füße beinahe berührten.
»Was war das denn?«, keuchte Bonne.
»Sie sind alle tot«, antwortete Milo. »Verstehst du? Tot!«
»Na und? Das ist doch kein Grund, sich so aufzuführen«, ereiferte sich
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