Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
Milo wurde zurückgerissen und von dem Wurzelgeflecht an der Schluchtwand verschluckt. Bonne wollte schon aufschreien, doch bevor seine Kehle gehorchte, sagte ihm sein Verstand, dass es keine Steine gab, die Halblinge fraßen, und dass Wurzeln lediglich Wasser aus dem Erdreich saugten. Vorsichtig steckte er die Hand in das Geflecht aus Wurzeln und angetrockneter Erde hinter sich. Seine Hand griff ins Leere. Wurzeln und Sand waren zwar keine Illusion, doch der natürliche Vorhang, den sie bildeten, war kein Zufall und hatte mit Sicherheit etwas mit den Runen auf dem Stein zu tun. Bonne zwängte einen Fuß zwischen den Wurzeln hindurch, dann das ganze Bein, und einen Moment später sah er sich in einem schummrigen Stollen wieder, der nur durch vereinzelte Lichtstrahlen erhellt wurde. Bevor er sich nach seinem Bruder umsehen konnte, hatte dieser ihn schon an der Schulter gepackt und zog ihn zu sich heran.
»Das mit deinen Haaren tut mir leid«, stammelte Bonne, aber bevor er weiterreden konnte, presste Milo ihm die Hand auf den Mund.
»Pst, dort!«, flüsterte er und drehte seinen Bruder an der Schulter herum.
Bonne sah am Ende des kurzen Stollens eine einfache hölzerne Tür oder ein kleines Tor, durch dessen Ritzen ein schwaches Licht schien. Die Tür stand einen Spalt breit offen.
»Eine Zwergenmine«, nuschelte Bonne durch Milos Finger hindurch.
»Es gibt im Düsterkrallenwald keine Zwerge«, flüsterte Milo.
»Dann vielleicht eine Bärenhöhle.«
»Mit einer Tür im Eingang und einer gemütlichen Beleuchtung im Inneren, weil Bären sich im Dunkeln fürchten?«, gab Milo zu bedenken.
Bonne schob die Hand des Bruders beiseite.
»Wenn du ohnehin alles besser weißt, würde es dir vielleicht nichts ausmachen, mich aufzuklären. Sag schon, was ist es?«
»Ich hab keine Ahnung«, zischte Milo.
»Das wäre mein nächster Tipp gewesen«, sagte Bonne zynisch. »Vielleicht sollten wir einmal nachsehen, bevor wir unwissend sterben, weil uns der Hungertod übermannt hat.«
»Da pflichte ich dir ausnahmsweise zu«, antwortete sein Bruder wie in Trance, während er auf die Tür zuschlich.
Milo spähte abwechselnd durch die verschiedenen Ritzen zwischen den Holzbrettern. Eigentlich war es keine Tür, sondern so etwas wie eine Gartenpforte, was die Sinnhaftigkeit ihrer Existenz unter der Erde noch weiter in Frage stellte. Mittig, im oberen Drittel der Pforte, war ein geschwungenes, mit Rankenornamenten versehenes Holzbrett angebracht. Jedoch hatte jemand den mittleren Teil, dort, wo sonst ein Name eingraviert war, mit einem scharfen Werkzeug unkenntlich gemacht. Nur die beiden ersten Buchstaben waren noch lesbar. Milo fuhr mit den Fingern über das Schild.
»Bo«, las er vor. »Der Rest ist nicht mehr zu entziffern«, erklärte er.
»Bo?«, wiederholte Bonne. »Klingt gut, klingt vertrauenswürdig, klingt besser als Dr.«
Milo sah seinen Bruder verständnislos an. »Dr?«
»Drache«, sagte Bonne.
»Drachen bauen weder Türen noch zünden sie Licht in ihrem Hort an«, verkündete Milo. »Hör jetzt endlich auf, nur dummes Zeug von dir zu geben. Sag mir lieber, ob wir dorthinein gehen sollen oder nicht.«
»Du überlässt mir die Entscheidung?«
»Nein, ich will nur deine Meinung hören, um dann genau das Gegenteil zu tun«, schnaubte Milo genervt.
»Es ist ein Stollen«, erklärte Bonne. »Warum sollte ihn jemand gegraben haben, wenn man nicht hindurchlaufen soll? Ich würde auf jeden Fall hineingehen, schon allein aus dem Grund, weil wir hier feststecken, seit du das Seil losgelassen hast.«
Milo ging auf den Vorwurf nicht weiter ein, um Streit zu vermeiden. Ansonsten musste er zugeben, dass sein Bruder irgendwie Recht hatte, sie waren hier gefangen.
Er drückte gegen die Holztür, als wolle er prüfen, ob sie wirklich da war. Knarrend schwang sie auf, und zum Vorschein kam ein bogenförmiger Stollen. Die Wände und Decken sahen aus, als wären sie aus schwarzem Lehm, den jemand mit einem feuchten Lappen glattgewischt hatte.
Der minenartige Stollen führte etwa dreißig Fuß geradeaus und zweigte dann nach links und rechts ab. Mitten auf der Gabelung stand eine beleuchtete Laterne, die jemand an einem Pfahl oder Spieß befestigt hatte. Nach wenigen Schritten nahm Milo den ungewöhnlichen Geruch war, der von den Wänden auszugehen schien. Entfernt erinnerte er ihn an eine durchzechte Nacht im »Springenden Hasen«, wenn Rita Grünblatt, die Wirtin, ihn und seine Freunde morgens hinauswarf, weil sie die
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