Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
Schenke saubermachen wollte. Und es gab noch etwas, das sich lückenlos in das ohnehin schon ungewöhnliche Ambiente einfügte: Der Boden war bedeckt mit gleichmäßig kleinen, hellgrauen Kieseln, die bei jedem Schritt knirschten.
Da Halblinge so etwas wie Angst nicht kannten, weil bei ihnen meist die Neugier obsiegte, waren die ersten Schritte der Brüder im Stollen lediglich von Unwohlsein begleitet. Dennoch war Milo froh, als er die Laterne erreichte und der Lichtkegel ihn einhüllte. Sein Bruder drängte sich ungewöhnlich dicht an ihn.
»Was soll das sein, die Straßenlaterne eines Wichteldorfes?«, flüsterte Bonne – und er hatte Recht. Der Stab unter der Laterne war ein aufwendig geschmiedetes Stück Metall mit etlichen Schnörkeln und einem breiten Fuß.
Milo zückte einen Dolch und trat an die Stollenwand. Mit der Klinge schabte er etwas von dem schwarzen Gestein ab und ließ die Stücke in seine Hand rieseln.
»Asche«, stellte er erstaunt nach einem Moment fest und pustete die Reste von seinen Fingern.
Beinahe hätte sich den beiden die Frage gestellt, in welche Richtung sie weitergehen wollten, wäre da nicht dieses glucksende und gackernde Geräusch gewesen, das Bonne in seinen Bann zog.
»Hühner«, stammelte er. »Was passt schon besser zu einem Hasenbraten mit Blutmorchelsoße als ein gut gewürzter und knusprig gegrillter Hühnerspieß?«
Milo konnte der Zusammenstellung so gar nichts abgewinnen, doch in Anbetracht dessen, dass in einem Halblingleben nach der Mahlzeit vor der Mahlzeit war, folgte er seinem Bruder in den dunkler werdenden Stollen.
Der unterirdische Gang verlief in einem Bogen, und kurz bevor das letzte Licht der winzigen Laterne erstarb, zeigte sich ein anderer Lichtschein vor ihnen.
»Wir sollten vorsichtig sein, solange wir nicht wissen, was hier vor sich geht und wer in diesem merkwürdigen Stollen haust«, warnte Milo seinen Bruder.
Bonne drehte sich um und sah seinen Bruder vorwurfsvoll an. »Nein«, tönte er. »Wir sollten vorsichtig sein. Denn egal wer in diesem merkwürdigen Stollen haust, wir werden ihn gleich um ein paar Hühner erleichtern. Du solltest langsam aufhören, das Besitzrecht eines Fremden über dein eigenes Bedürfnis zu stellen. Wann hat dir das letzte Mal jemand ein Huhn geschenkt?«
»Noch nie«, antwortete Milo verständnislos.
»Da siehst du es«, erklärte Bonne. »Alle anderen denken auch nur an sich, und es ist ihnen egal, ob du gerne ein Huhn haben möchtest oder nicht. Ich gebe dir jetzt einen guten Rat: Wenn du etwas haben willst, nimm es dir, wenn keiner hinsieht. Das gilt natürlich nicht unter Geschwistern«, fügte er eilig hinzu und grinste verlegen. »Nun komm schon, Bruder! Es wird schon kein Wichtelbauer mit einer Armee von Katakombenhühnern dort hinten auf uns lauern. Wahrscheinlich hat sich das blöde Federvieh hierher ebenso verirrt wie wir. Wir schaffen es bloß dorthin zurück, wo es hingehört – in den Kochtopf der Familie Blaubeers.«
Milo musste zugeben, dass sich das meiste, was sein Bruder von sich gegeben hatte, recht plausibel anhörte, wenn man nicht länger darüber nachdachte. Außerdem wollte er nicht als Feigling und Spielverderber dastehen, erst recht nicht, wenn es um Hühner ging. Milo packte seinen Bruder an der Schulter und hielt ihn zurück.
»Lass mich vorgehen«, sagte er bestimmend.
»Warum?«
»Weil ich stärker und schneller bin als du«, erklärte Milo. »Wenn dort jemand auf uns lauert, werde ich mich unter seinem Schlag hinwegducken, während er dich mit voller Wucht trifft. Dann kann ich deinen Tod rächen, wie es sich für einen älteren Bruder gehört.«
Bonne verzog das Gesicht. »Träum weiter, du Nebelriese. Lass dir erst mal anständige Haare auf den Füßen wachsen. Ich lass dich vorgehen, aber nur, weil Vater sicherlich von mir wissen will, wie du umgekommen bist. Ich hoffe, das Dutzend Hühner wird ihn über deinen Tod hinwegtrösten.«
»Wer zuerst zwei gefangen hat!«, sagte Milo herausfordernd und rannte los.
Das Licht war schnell erreicht und stellte sich als die gleiche kleine Laterne heraus, die sie schon auf der Kreuzung zuvor gesehen hatten. Jedoch hatte das Licht für Milo diesmal nichts von Geborgenheit oder Schutz, vielmehr war es für ihn das Startzeichen einer Wette, die er nicht gedachte zu verlieren.
Im fahlen Schein der Laterne zeigte sich zur Linken eine russ-schwarze Scheunentür, die teilweise noch unter einer Ascheschicht verborgen lag.
Milo hatte alles um
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