Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
Bonne. »Schließlich waren sie schon tot, bevor wir hierherkamen.«
Einen Augenblick herrschte Stille, und die beiden Halblinge sahen sich schweigend an.
»Wir müssen hier wieder raus«, befand Milo, »und zwar so schnell wie möglich. Vielleicht befindet sich auf der anderen Seite ein Ausgang.«
Bonne sprang begeistert auf und klopfte sich den Schmutz von der Kleidung.
»Worauf warten wir dann?«
Milo zeigte hinter sich. »Mein Dolch steckt noch in dem Gaul.«
»Da wird sich der Metzger aber freuen«, schnaubte Bonne mehr in Richtung des Pferdes als seinem Bruder zugewandt. »Ich kaufe dir einen neuen, wenn wir zurück in Eichenblattstadt sind.«
Dann half er seinem Bruder auf die Beine, und gemeinsam verließen sie eilig die Scheune, ohne sich noch einmal umzudrehen. Schweigend und mit schnellen Schritten traten sie den Rückweg an. Als sie wieder auf die Kreuzung mit der winzigen Laterne trafen, blieb Milo einen Moment stehen und blickte unentschlossen den Stollen hinunter, der zur Seufzerschlucht führte.
»Was ist los?«, fragte Bonne verständnislos.
In Milos Gesicht zeigte sich Zweifel. »Vielleicht sollten wir doch versuchen, an das Seil zu kommen. Wer weiß, was uns hier unten noch alles erwartet. Immerhin sind wir unbewaffnet und so gut wie wehrlos.«
»Hat Vater dir denn nichts gesagt?«, fragte Bonne übertrieben einfühlsam.
»Was soll Vater mir gesagt haben?«, erwiderte Milo nervös.
»Wir sind Halblinge«, verkündete sein Bruder. »Für die meisten Unholde auf dieser Welt sind wir ohnehin wehrlos, egal ob mit oder ohne Waffe. Was kümmert es einen Riesen, wenn er auf dich tritt, ob du ein Messer dabeihast? Die Stärke der Halblinge ist ihr Geschick, ihr Frohsinn und die Raffinesse, mit der sie sich ihren Problemen stellen. Und deshalb tue ich einfach so, als wenn ich deinen einfallslos melancholischen Plan zum Geschwisterselbstmord nicht gehört habe. Oder wolltest du allen Ernstes versuchen, an das Seil zu springen, und wenn du es verfehlt hast, dir beim Sturz in die Tiefe etwas Besseres einfallen zu lassen? Wie viele Halblinge kennst du, die über zehn Fuß weit springen können?«
Bonne hatte Recht. Es kam selten vor, aber heute schien er eine Glücksträhne zu haben. Richtig oder falsch war bei den Brüdern normalerweise eher eine Definition, die durch die Worte »Wetten, dass« und den Ausgang einer Mutprobe entschieden wurde, aber diesmal verzichtete Milo darauf. Der Sprung an das Seil durfte nicht mehr als der letzte Ausweg sein, wenn überhaupt. Er sah seinen Bruder empört an. »Du hast doch wohl nicht im Ernst geglaubt, dass ich so dumm wäre, mich wie ein Gewitterhörnchen in die Schlucht zu stürzen, oder?«
»Nicht?«, fragte Bonne verstört. »Was hattest du dann vor?«
»Ich hätte dich springen lassen, um zu sehen, ob man es überhaupt schaffen kann.« Milo legte sein breitestes Grinsen auf, klopfte Bonne auf die Schulter und ging an ihm vorbei.
Als er bemerkte, dass sein Bruder ihm nicht gleich folgte, drehte er sich zu ihm um. »Ich bin mir sicher, du hättest es geschafft«, sagte er, um Bonne jedenfalls so weit zu beruhigen, dass er keine Dummheit beging.
»Natürlich hätte ich das«, entgegnete Bonne und schloss zu seinem Bruder auf.
Das Stollenende, in dem sie sich befanden, glich dem ersten Teil. Die Wände waren rußgeschwärzt und der Boden mit Kieseln bedeckt. Der Weg schien sich um irgendetwas herumzuwinden oder sich durch etwas hindurchzuschlängeln. Mehrfach änderte er die Richtung, und es hatte den Anschein, als wüsste er selbst nicht, wohin er führen wollte. Die erste Abzweigung hätten Bonne und Milo beinahe übersehen, so schmal war sie und so finster der Kriechgang dahinter. Das Stollenstück war nicht höher, als ein Halbling maß, und die Breite so, dass keiner von ihnen bequem durchgepasst hätte. Die Entscheidung, dem Hauptgang weiter zu folgen, war im Grunde genommen keine und wurde deshalb auch nicht diskutiert. Eine Biegung später jedoch war es nicht mehr so einfach. Der Gang gabelte sich in drei gleichgroße Teilstücke, und jedes von ihnen war kaum einsehbar. Aber aus allen drang ein matter Lichtschein.
Nacheinander starrte Bonne in die schummrigen Stollen. »Einer ist genauso gut wie der andere«, stellte er ernüchtert fest.
»Oder genauso schlecht«, fügte Milo frustriert hinzu.
Genau genommen war Milo kein Schwarzseher, doch die ungewohnte Umgebung zwang ihn irgendwie dazu. Alles war schwarz und düster. Nichts zeigte sich
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