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Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)

Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)

Titel: Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aileen P. Roberts
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auf Anhieb. Hinsehen reichte nicht, man musste alles regelrecht mit seinem Blick ertasten. Milo sah erneut in die drei Gänge vor sich, dann wieder zurück in den, den sie gekommen waren.
    »Dieser ist es«, verkündete er und zeigte dabei in den rechten Gang.
    »Woher willst du das wissen?«, fragte Bonne.
    Milo deutete nach unten, wo Wand und Schotterboden aufeinandertrafen. »Das hier ist kein unterirdisches Gewölbe«, erklärte er. »Die kleinen Laternen, der Stall, dieser Schotterweg – das alles gehört zu einem Hof, einem mit Asche verschütteten Hof. Die Begrenzungssteine hier unten markieren den Hauptweg, und sie verlaufen nur in dem rechten Stollen. Die anderen beiden führen uns nur zu einem weiteren Nebengelass.«
    »Und der Hauptweg?«, fragte Bonne, obwohl er die Antwort schon wusste.
    »Entweder zur Gartenpforte oder zum Haus.«
    Die Brüder nickten einander zu und setzten ihren Weg fort. Nach einer weiteren Biegung wurde der Stollen breiter und öffnete sich wenig später zu einem kreisrunden Platz, aus dessen Mitte der verkohlte Stamm einer Eiche ragte. Davor stand eine Bank, ebenfalls rußgeschwärzt, und eine weitere Laterne.
    »Nicht gerade das Plätzchen, wo sich ein verliebtes Paar das erste Mal küssen sollte«, befand Bonne.
    »Vielleicht war es das früher«, erwiderte Milo, »bevor …«
    »… bevor es Asche regnete und diesen Ort unter sich begrub, meinst du«, beendete sein Bruder den Satz.
    Milo nickte stumm.
    »Lass uns weitergehen«, sagte er, »oder hoffst du, hier das Mädchen deiner Träume zu finden?«
    Bonne zog eine Grimasse. »Was brauche ich ein Mädchen, ich habe doch dich. Du bist zwar hässlich wie die Nacht, aber du kannst gut kochen. Wenn du dich dazu entschließen könntest, einen Rock anzuziehen, wäre Vater zwei Sorgen auf einen Schlag los. Er hätte mich unter die Haube gebracht und müsste sich deiner nicht mehr so schämen.«
    Milo ließ seinen Bruder einfach stehen und setzte seinen Weg fort. »Vater macht sich keine Sorgen um dich«, sagte er, während er seinem Bruder schon den Rücken gekehrt hatte. »Er hat mir anvertraut, dass er einige Zwergenfrauen zum Boggarfest eingeladen hat. Er ist der Meinung, dass niemals ein Halblingsmädchen geboren wird, das hässlich und dumm genug wäre, dich zu erwählen. Ich sehe in Gedanken schon eure Kinder, wie sie mit ihren riesigen Füßen auf die eigenen Bärte treten.«
    Milo grinste in sich hinein. Wortgefechte waren nichts, worauf sein Bruder sich mit ihm einlassen sollte. Bonne zog fast immer den Kürzeren, und er war ein schlechter Verlierer. Meistens lachte er dann auffällig laut – ein Lachen, in dem seine Anspannung deutlich mitschwang.
    Doch diesmal blieb das Lachen aus, und Milo blieb stehen. Er drehte sich um, um zu sehen, was Bonne von der gewohnten Verliererposse abhielt, da sah er seinen Bruder auch schon auf sich zuhechten. Milo ging zu Boden, und Bonne stürzte über ihn. Die beiden Halblinge rollten über den Boden. Mal hatte Milo die Oberhand, mal Bonne. Solche Raufereien waren bei den Brüdern an der Tagesordnung. Ein Handgemenge mit dem üblichen Kräftemessen brachte etwas Abwechslung in den täglichen Wettstreit der beiden. Milo bekam die Oberhand und drückte seinen Bruder zu Boden.
    »Gibst du auf?«, keuchte er.
    »Ja, ich nehme alles zurück«, stöhnte Bonne. »Du kochst miserabel, und in einem Kleid würdest du noch dämlicher aussehen als jetzt schon.«
    Milo setzte Bonne ein Knie auf die Brust und presste die Schultern des Bruders stärker zu Boden.
    »Gib auf«, forderte er.
    »Hörst du das auch?«, krächzte Bonne.
    Zuerst dachte Milo an ein Ablenkungsmanöver seines Bruders, doch dann drangen auch an seine Ohren die fremdartigen Klänge einer Melodie.
    »Da spielt jemand Harfe«, sagte er und gab seinen Bruder frei.
    Schnell waren beide wieder auf den Beinen. Wie magisch angezogen folgten sie dem Ursprung der Musik weiter in den Gang hinein.
    Sie mussten nicht weit gehen. Hinter der nächsten Wegbiegung mündete der Stollen in ein größeres Gewölbe. Genau genommen war es eine Höhle, an deren Eingang die verkohlte Fassade eines Hauses stand – einer Schankstube. Über der Tür hing eine schlecht polierte Laterne, die das breite Holzschild mit der Aufschrift Gasthaus zur Toten Krähe darunter beschien.
    Das Feuer hatte dem Haus ordentlich zugesetzt. Durch etliche Risse in der Fassade drang Licht aus dem Schankraum nach außen, begleitet von einer traurigen Melodie, gespielt auf einer

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