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Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 2 (German Edition)

Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 2 (German Edition)

Titel: Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Frenz
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Die Stränge peitschten vor und umschlangen Otli. Sein Gesicht verzerrte sich, er schrie auf und wurde fortgerissen, auf den schmalen Spalt zu. Lambanos fuhr herum, Gulberts Licht hinter uns strahlte heller. Die Schattenfäden wirkten viel zu dünn, fast körperlos, dennoch zerrten sie Otli mit sich. Sein Schreien brach ab, als er den Spalt erreichte. Es gab ein Krachen und Reißen, als das Ding ihn zwischen die Felswände zerrte. Die wirbelnden Lichtpunkte entfernten sich und nahmen Otli mit, noch bevor einer von uns einschreiten konnte.
    Gulbert und Lambanos waren bei mir, sie fluchten und riefen. Ich drückte mich an den Spalt und streckte die Hand hinter Otli her. Ich versuchte, ihn noch zu fassen, aber der Riss zwischen den Felsen war viel zu schmal. Ich bekam den Arm hinein und blieb mit der Schulter stecken.
    »Otli!«, rief ich ihm nach.
    Lambanos stieß mich beiseite. Er schlug mit der Axt in den Spalt, hilflos und zornig, aber das blaue Leuchten darin verschwand bereits in der Ferne.
    »Zauberer«, brüllte der Zwerg, »hol ihn zurück! Schick der Bestie einen Zauber hinterher!«
    Ich sah zu Gulbert auf. Der schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Zweck. Otli muss schon ganz zerschmettert sein.« Er legte die Hand auf die scharfen Kanten des zerklüfteten Felsens. Einige der Schatten am Gestein schimmerten feucht. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich selbst schmierige Flecken auf der Schulter hatte, dort, wo ich mich in den Spalt gequetscht hatte. Mir war schlecht, und ich wollte meine Hände säubern, aber ich hatte nichts außer meiner Kleidung.
    »Ich dachte, du kannst das Ungeheuer spüren!«, rief ich zornig. »Du hast seine Magie gespürt, als wir in den Berg gestiegen sind.«
    »Ja … ja.« Gulbert klang fahrig. Er starrte immer noch in den Spalt und schob den Stab hinein. Ich wandte mich ab, als ich im Schein des Zauberlichts Blutflecken und Hautfetzen an der Felswand kleben sah.
    »Die Magie dieses Geschöpfs war deutlich zu spüren, als es schlief«, sagte Gulbert. »Aber wenn es wach ist, vermag es sich zu tarnen. Oder es ist an vielen Stellen zugleich. Ich fühle seine Magie immer noch, aber es ist verwirrend …« Sinnend legte er den Kopf schräg.
    Lambanos schlug den Stiel seiner Axt auf den Boden, und wir beiden anderen zuckten zusammen. »Gehen wir weiter«, sagte der Zwerg. »In das Loch können wir dem Viech nicht folgen. Jedenfalls nicht, wenn der Zauberer uns nicht alle zu Mäusen macht, und als Maus will ich dem Ungeheuer nicht entgegentreten.«
    Ich weigerte mich immer noch. »Du willst schon wieder einen von uns zurücklassen? Soll das denn immer so weitergehen?«
    »Ich hoffe nicht«, sagte Gulbert. »Aber Otli ist tot, und unsere Sorge gilt den Lebenden.«
    »Ganz recht«, warf Lambanos ein. »Dein Freund wurde völlig zerquetscht, als das Ding ihn durchs Loch gezogen hat. Das kann nicht mal so ein kleiner Wicht überleben. Aber wenn wir jetzt nicht hier herumstehen, bis das Ungeheuer mit ihm fertig ist, dann verschafft sein Tod uns die Zeit, unser Ziel zu erreichen. Es ist nicht mehr weit.«
    Der Zwerg hielt die Axt mit beiden Händen vor den Leib und schob mich voran. »Woher willst du das wissen?«, protestierte ich. »Du kennst den Berg so wenig wie wir.«
    »Ein Zwerg fühlt so etwas«, behauptete Lambanos. Er ließ Gulbert vorangehen und wies ihm von hinten den Weg. Er selbst gab auf unseren Rücken acht.
    Gulbert ließ seinen Stab weiterhin so hell strahlen, dass das Zauberlicht scharfe Schlagschatten warf. Die Muster, die sich an den Felswänden bildeten, als wir vorüberhasteten, wirkten beinahe lebendig.
    Wir kamen bald in einen breiten Gang, den wir nicht mehr verließen. Wände und Boden waren sorgsam geglättet. Immer wieder mündeten kleinere Tunnel ein, aber es gab keine Spalten oder größere Hindernisse, hinter denen der Feind auf uns lauern konnte. Gulbert hielt mich dicht bei sich, sein Arm lag auf meiner Schulter, als wäre ich ein Schatz, den es zu behüten galt.
    Dann hielt er inne. »Es ist wieder auf der Jagd«, sagte er.
    Lambanos hob die Axt und sah sich um. »Wo?«, fragte er.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Gulbert. »Es tarnt sich. Eben deshalb vermute ich, dass es bald wieder angreifen will.«
    Wir gingen vorsichtiger weiter, jederzeit auf einen Hinterhalt gefasst. Gulbert murmelte vor sich hin, als würde er Zaubersprüche rezitieren. Ich zitterte, vor Anspannung und auch vor Erschöpfung. Ich hätte längst eine Pause gebraucht, aber wie hätten wir

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