Große Kinder
Geborgenheit, Verlässlichkeit, Zusammengehörigkeit, Verantwortlichkeit, Warmherzigkeit, gute Laune, Geduld, Humor, Achtung, Ehrfurcht. Je mehr sie davon bekommen, umso stabiler werden sie ihr Leben langinnerlich sein und umso mehr werden sie davon an ihre Mitmenschen und an ihre eigenen Kinder weitergeben können.
Besonders Gefühle, die einen »moralischen Touch« haben, scheinen in unserer Gesellschaft allerdings als sentimental und nicht mehr zeitgemäß zu gelten. Das Gefühl Ehrfurcht zum Beispiel, das aber nichts mit Furcht zu tun hat, sondern mit Gefühlen wie Achtung, Verehrung, Respekt. Heute beklagen sich viele Erwachsene darüber, dass Kinder so wenig davon haben. Offenbar begegnen moderne Kinder zu selten Situationen, in denen sie Ehrfurcht fühlen können: Ehrfurcht vor dem Schneeglöckchen, das sich durch die Eisdecke gearbeitet hat. Ehrfurcht vor den Eiern im Vogelnest oder den Tropfsteinen, die in Jahrmillionen ganz langsam gewachsen sind. Ehrfurcht vor der selbst gestickten Weihnachtsdecke der Großmutter.
Achtung und Respekt stellen sich nicht von selbst ein. Diese Gefühle lernt man durch Nachahmen. Ein Kind, das an seinen Lehrern und Eltern beobachtet, dass man vor Dingen, Personen und Leistungen Achtung empfinden kann, wird sich zwar womöglich in Gegenwart anderer Kinder gelegentlich darüber lustig machen (weil es damit die »Großen«, die Jugendlichen nachmacht). Auf Dauer aber wird dieses Kind doch nicht so ohne weiteres respektlos und unbedacht zerstören, was ein anderer geschaffen hat und wird Verständnis dafür haben, dass es Dinge gibt, die für andere Menschen große gefühlsmäßige Bedeutung haben: Kunstwerke oder heilige Stätten, religiöse Bräuche oder auch »nur« das Werkstück eines Klassenkameraden.
Eines allerdings müssen Erwachsene, die mit Kindern leben, immer bedenken: Gefühle wie Achtung, Respekt, Ehrfurcht und Verehrung unterliegen einem äußerst delikaten Gesetz: Man darf sie nie von einem Kind fordern! Man kann sie nur vorleben. Sie sind wie empfindliche Pflänzchen: Man muss sie behutsamgießen, aber antasten darf man sie nicht. Wenn das gelingt, empfinden Kinder unter 13 diese Gefühle aber offenbar als ausgesprochen aufbauend, warm und wohltuend. Im Jugendalter sieht man das anders. Dann muss man Achtung, Respekt und Ehrfurcht in bestimmten Situationen und gegenüber bestimmten Dingen und Personen auch mal über Bord werfen (dürfen).
Besonders – aber nicht nur – Mädchen suchen und finden wohltuende Gefühle, indem sie schöne Dinge anfertigen, den Tisch hübsch decken, Blumen richten, den Erwachsenen helfen, anderen eine Freude bereiten oder für kleinere Kinder und Tiere sorgen.
Und da wir gerade bei den Mädchen sind, eine kleine Bemerkung zu einer besonderen Form von weiblichem Gefühlsleben, das ab etwa 8 Jahren auftaucht: Für manche Mädchen wird ab diesem Alter das Weinen ein Teil des Seelenlebens. Heimlich weinen bis zur Genüge, bis zur entspannenden Erschöpfung, daran erinnern sich viele Frauen. Die Erfahrung, aus einem eigentlich unbedeutenden Grund zu weinen, weil die Seelenstimmung danach ist, dazu in einer Situation, in der man ganz allein für sich ist, hat offenbar etwas mit Reifung zu tun. Bei kleinen Kindern gibt es das noch nicht und bei alten Menschen so nicht mehr. (Gibt es dieses Weinen auch bei Jungen? Bisher hat mir davon noch kein Mann erzählt, und gelesen habe ich darüber auch noch nichts.)
Zurück zu den glücklichen Momenten: zum Basteln zum Beispiel. Wenn Kinder Dinge, die sie zum Spielen brauchen, selbst anfertigen müssen, sind sie deshalb keineswegs »arm dran«. Im Gegenteil. Max Kruse beschreibt anschaulich die Gefühle, die bei ihm mit diesem Basteln verbunden waren und die Kindern in unserer perfekten Kultur, in der es alles fertig zu kaufen gibt, kaum noch erleben:
... aber wie immer im Leben war die Vorbereitung dazu doch die Hauptsache. Das Schnitzen und Kleben von Speer und Schild, der Geruch von Kleister dabei, die furchtbare Unordnung im Zimmer und die Vorstellung beim Anblick des bunten, des Gold- und Silberpapiers, was da alles Herrliches entstehen konnte, war berauschend.
(Kruse, S. 26)
Jungen und Mädchen gleichermaßen brauchen für ihren seelischen Reichtum in diesem Alter aber vor allem die Begegnung mit der Natur! Das hat nicht das Geringste mit Sentimentalität zu tun, wohl aber mit der Entwicklung von Kindern zu lebendigen, selbstsicheren, beweglichen und
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