Große Kinder
1998 mit seiner breit gefächerten Kindergesellschaft lebt, ist nicht weltabgeschieden, und im Krämerladen gibt es alle Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen: Kosmetika, Kaugummis, Taschenlampen, T-Shirts , Comic-Hefte usw. Die Dinge aber, die wirklich wichtig sind zum Leben, die sie brauchen, auch wenn sie kein Geld für den Krämerladen haben, diese Dinge haben die Leute im Dorf aber noch selbst in der Hand: Sie pflanzen Mais und Bananen an, holen, je nachdem, was sie daraus zubereiten wollen, reife oder unreife Kokosnüsse von den Palmen (John ist ein ausgezeichneter Kletterer!) und gewinnen aus verschiedenen Pflanzen Fasern für allerlei Textilien. Sie halten Hühner und Schweine, die regelmäßig Nachwuchs haben, der heranwächst und wieder Nachwuchs großzieht. Außerdem gibt es im Dorf Hunde und Katzen zuhauf und in allen Altersstufen: Die neugeborenen blinden Hündchen gehören ebenso zum Leben wie die übermütigen jungen Welpen, die alles, was ihnen zwischen die Fänge kommt, zerbeißen, die ausgelassenen halbwüchsigen Hunde im »Flegelalter« und der träge Hundegreis, der den ganzen Tag im Schatten schläft. Die Kinder erleben, wie aus dem frechen, ausgelassenen Welpen eines Tages eine geduldige Hundemutter wird, die dennoch ihr Junges in die Schranken weist, wenn es zu weit geht. Werden und Wachsen ist allgegenwärtig in dieser dörflich-natürlichen Welt.
Doch nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen entwickeln sich, selbst an Sachen erleben die Kinder, die in dieser Umgebung aufwachsen, dass es nichts gibt, was von vornherein »fertig«, vollkommen, perfekt ist. Denn auch die Dinge haben ihre Entstehungsgeschichte, die jedes Kind von klein an kennenlernt: Ob die Fischer ein Netz knüpfen, dessen Seile sie zuvor aus den Sisalfasern gewonnen haben, ob ein alter Mann einen Holzlöffel schnitzt, ob Musikinstrumente hergestellt, Kleidungsstücke genäht, Feuer angefacht oder Maisfladen gebacken werden: Der Prozess vom unfertigen zum fertigen Produkt ist den Kindern, ob sie nun genau hinsehen oder nicht, immer vor Augen. Und wenn sie selbst anfangen, Dinge herzustellen, wenn sie nicht mehr nur zuschauen oder den Älteren zur Hand gehen, sondern selber etwas machen, dann erleben sie ganz unmittelbar, dass es Perfektion nicht auf Anhieb gibt – dass sie aber im Lauf der Zeit erreichbar ist.
Kinder in dieser Umgebung spüren, dass sie, wie alles auf der Welt, am Anfang unvollkommen sein dürfen. Und sie wissen, dass sie wachsen, dass sie, wie alles auf der Welt, allmählich reifer und »besser« werden. Und die Älteren wissen ebenso, dass sich Kinder von selbst entwickeln, wenn sie zur richtigen Zeit die passende Unterstützung, aber auch die notwendige Abgrenzung erfahren.
Diese urtümlichen Lebenszusammenhänge sind wohl ein Grund dafür, dass immer mehr Menschen aus den industrialisierten Regionen das »einfache Leben« in diesen »unterentwickelten« Ländern als Idylle empfinden und viel Geld ausgeben, um im Urlaub ein klein wenig davon mitzubekommen. Denn Wachstum und Entwicklung vermitteln unbewusst Zuversicht und Lebensfreude. Und danach scheinen sich viele Erwachsene in unseren hoch entwickelten Kulturen genauso zu sehnen wie unsere Kinder. Bei uns ist aber alles von Anfang an perfekt, fix und fertig. Das ist zutiefst entmutigend und nimmt die Lust auf Werden und Wachsen.
Wie tief das Bedürfnis unserer Kinder ist, Entwicklung begleiten und erleben zu dürfen, war am Tamagotchi-Boom zu erkennen. Tamagotchis vermitteln den Eindruck, dass sie wie»echte« Lebewesen durch Pflege und Fürsorge wachsen. Aber auch und gerade diese Maschinchen gaukeln Entwicklung nur vor, denn sie leben, wachsen und verändern sich nicht wirklich. Trotz des vorgetäuschten Wachstums bleiben sie doch immer so, wie sie von Anfang an programmiert waren.
Und geschieht nicht Ähnliches mit den Kindern in den Industrienationen, wird nicht tatsächlich klammheimlich erwartet, dass auch sie von Anfang an perfekt und fix und fertig programmiert sind, sich auf Knopfdruck entwickeln und rundum funktionieren? Oder umgekehrt auf ewig so bleiben, wie sie gerade sind, so süß wie das junge Kätzchen vom Bauernhof, das in Petras Wahrnehmung nie erwachsen geworden ist? Wo gibt es noch die Herausforderung zur schrittweisen Entwicklung, wenn sogar Flieger nicht mehr selbst aus Papier gefaltet werden müssen und von Anfang an perfekt fliegen?
Was Kinder in unserer Gesellschaft erleben, ist nicht Entwicklung, sondern »Fortschritt«
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