Große Kinder
oder jüngere Geschwister, aber richtig zusammen sind sie auch mit diesen Kindern kaum. Die jüngeren Kinder gehen in den Kindergarten, die älteren dagegen sind schon in der weiterführenden Schule. Nur beim Fußballspielen, zu dem sich die Jungen aus der Nachbarschaft treffen, und bei dem Jan seit kurzem manchmal mitmachen darf, trifft er mit Jungen zusammen, die sogar schon 12 oder 13 Jahre alt sind. Sonst gibt es so gut wie keine Berührungspunkte zwischen Kindern der verschiedenen Altersstufen.
Selbstverständlich werden die Dinge des täglichen Bedarfs von den Eltern eingekauft: von der Zimmereinrichtung bis zum Spielzeug, von der Tiefkühlkost bis zu den Getränken, von den Äpfeln bis zu den Balkonpflanzen. Als fürs Kinderzimmer ein neuer Teppichboden besorgt wurde, ist der Vater mit den Kindern in den Baumarkt gefahren und hat dort alles bekommen, was er brauchte: die Auslegware, Spezialkleber, Teppichleisten, Nägel. Bei der Gelegenheit hat er den Kindern übrigens auch etwas zum »Selbermachen« gekauft: für Jan einen Flieger, der nur noch nach Anleitung zusammengesteckt werden musste, und für Petra das Bild eines jungen Kätzchens: »Malen nach Zahlen«. Petra war entzückt, denn das Bild auf der Vorlage erinnerte sie an das verspielte junge Kätzchen, das im vergangenen Sommer auf dem Bauernhof zwei Wochen lang ihre ganze Wonne gewesen war. Das Bild, das ihr der Vater gekauft hat, ist dennoch nie fertig geworden und Jans Flieger flog zwar wirklich ausgezeichnet, aber gerade deswegen war der Spaß am zweiten Tag auch schon wieder vorbei.
Nehmen wir dagegen John, 9 Jahre alt. Er lebt in einem Fischerdorf in der Karibik. Seine Eltern besitzen neben ihrer notdürftig zusammengebauten Hütte zwar ein kleines Fischerboot mit Außenbordmotor, auf das sie sehr stolz sind, dennoch ist es für sie sehr schwer, das Geld zusammenzubringen, das sie brauchen, damit die Kinder wenigstens in die Schule gehen können. Sie selbst können kaum lesen und schreiben, aber sie wissen, dass Schulbildung heutzutage für die Zukunft ihrer Kinder die wichtigste Lebensgrundlage ist. Es sind unbestreitbar keine idealen Startbedingungen für ein Leben im 21. Jahrhundert, die John in seinem Küstendorf mitbekommt.
Aus einem ganz wichtigen Grund möchte ich dennoch sein Leben neben das von Jan und Petra stellen. Denn John bekommt trotz aller Nachteile, die er hat, eine wesentlichemenschliche Basiserfahrung mit, die seinen Altersgenossen in den wohlhabenden, technisierten Gegenden der Welt weitgehend fehlt: John erlebt in seinem Alltag unentwegt, was »Entwicklung« bedeutet. Zwar hat er »nur« zwei Geschwister, die 5 und 11 Jahre alt sind, aber weil seine Tante mit ihren drei Kindern von 1, 3 und 4 Jahren und die beiden jüngsten Schwestern seiner Mutter mit 13 und 15 Jahren im selben Haus leben, ist er in eine ununterbrochene Kette von Menschen zwischen Baby- und Erwachsenenalter eingefügt. Dazu kommen alle anderen Kinder und Jugendlichen des Dorfes, die sich tagtäglich und überall mehr oder weniger intensiv begegnen, nicht nur in der Schule. Es gibt keine Lücke zwischen den Generationen, jedes Kind hat engen Kontakt zu jüngeren und älteren Kindern. Jeder Mensch hat ständig vor Augen, wie er selbst einmal gewesen ist, und an den Älteren sieht er, wohin die Reise geht.
Jede Altersstufe hat ihre speziellen Aufgaben innerhalb der Familien- und Dorfgemeinschaft. John zum Beispiel taucht seit etwa einem Jahr nach Schnecken und Schwämmen, und er verdient sich ein paar Dollar, wenn er zum Vergnügen der Touristen den sinkenden Münzen nachtaucht, die sie ihm vom Boot aus ins Meer werfen. Sein älterer zwölfjähriger Bruder darf schon das Boot mit den Touristen an der Küste entlangsteuern. John wünschte, er wäre so alt wie er und dürfte auch schon selbstverantwortlich das Boot fahren. Andererseits ist er froh, dass er nicht mehr das Holz für das Feuer zu Hause sammeln muss, das können die kleine fünfjährige Schwester und die vierjährige Cousine inzwischen ganz gut allein.
Wie er erlebt jedes Kind in dieser natürlichen Gemeinschaft zurückschauend, wie sehr es schon gereift, gewachsen, groß geworden ist. Gleichzeitig sieht es, wie viel ihm doch noch fehlt, um »richtig« groß, erwachsen, reif oder gar weise zuwerden. Kinder, die so heranwachsen, spüren intuitiv, dass Unvollkommenheit kein Makel ist. Das beruhigt. Der Vorsprung der Älteren aber spornt an und macht Mut.
Das Dorf, in dem John
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