Große Kinder
mehr auf dem Konto!), den Verfolgern auch an diesem Hindernis entkommen zu sein, ist zweifellos für den Bruchteil einer Sekunde absolut überragend.
Die Gefühle aber, die ein Kind erlebt, wenn es in einem gut geschriebenen Buch mit dem Helden mitfiebert, der sich aus einer ausweglosen Situation nur retten kann, wenn er den Sprung über einen bedrohlich breiten Graben schafft, sind ausgedehnter, fesselnder, individueller und farbiger.
Dennoch kommen auch diese Gefühle nicht annähernd an das Erlebnis heran, das ein Kind hat, wenn es ganz real draußen über einen fast zu breiten Graben springt: Soll ich wirklich springen? Dann die Selbstüberwindung, die Schrecksekunde (ich schaff’s nicht!), die Erleichterung, der Stolz, die beim Abstützen vielleicht schmutzig und nass gewordenen Hände ... Alle Gefühle zusammen summieren und vermischen sich zu dem einmaligen Gefühl, leibhaftig und erfolgreich diesen eigentlich zu breiten Graben »geschafft« zu haben.
Wie unendlich farbiger und kribbelnder ist nun wiederum die Gefühlsmischung, die aufkommt, wenn man sich mit mehrerenKindern gemeinsam im Spiel auf freiem Feld oder im Wald auf der »Flucht« vor einem imaginären Verfolger befindet und es schließlich unter dem Aufbieten aller Kräfte in aller Eile gelingt, dass sich alle, auch der Schwächste und Kleinste der Gruppe, »im allerletzten Augenblick« glücklich auf die andere Seite eines Baches retten und der Verfolger damit endgültig seine Macht verloren hat! Das ist unbestreitbar eine andere Lebensqualität, als sie Lesen allein oder Computerspiele jemals ermöglichen können.
Das Schönste am Leben kommt bei modernen Kindern zu kurz: die sinnliche, körperliche, emotionale Selbsterfahrung, die im Ausspielen der Phantasie kostenlos mitgeliefert wird. Schlimmer noch: Kinder werden von den Medien mit intensiven Emotionen bombardiert, die nicht aus ihnen selbst kommen und von denen sie sich nur allzu selten »freispielen« können. Und: Die Zeit, in der Abenteuerspiele echte, lebendige Gefühle hervorrufen, ist begrenzt. Für Sechzehnjährige hat es keinen Reiz mehr, so zu tun, als müssten sie sich vor einem Verfolger in Sicherheit bringen.
Im Lauf der Kindheit ins Spiel vertieft Gefühle zu erleben, Augenblicksstimmungen nachzuspüren und Phantasien fliegen zu lassen, ist eine Form von innerer Freiheit und Bewusstseinserweiterung, die meiner Ansicht nach eine ganz entscheidende Vorbeugung gegen spätere Suchtanfälligkeit ist: Wer nämlich als Kind nicht genug davon gekostet hat, sich im Spiel in andere Welten zu verlieren und dabei zu sich zu kommen, der wird das Bedürfnis danach ein Leben lang in sich tragen, aber nicht mehr befriedigen können. Als Ersatz bleiben dann Erlebnisse von »Bewusstseinserweiterung« unter Drogen und esoterische Grenzüberschreitungen durch dubiose Trancezustände und Ähnliches, die sich Sekten und zweifelhafte »Therapien« zunutze machen. Solche Erfahrungen machen im Erwachsenenalteraber nicht mehr frei, sondern im Gegenteil eher abhängig.
Der Gefühlsschatz, der im Lauf der Kindheit angesammelt wird, stammt in erheblichem Umfang allerdings auch aus Situationen, die im Zusammensein mit Erwachsenen entstehen – im Guten wie im Schlechten. Was gute, »stimmungsvolle« Situationen sind, muss man als Kind lernen, oder besser gesagt, »abschauen«: der Ton, wie man miteinander redet, die Art, wie der Geburtstag gefeiert wird, der Gutenachtritus, aber auch das gemeinsame Spielen, Toben und Herumalbern. Diese »guten« Stimmungen sind ein unendlich wichtiges Seelenfutter auch noch für große Kinder.
Wie wohltuend es für Kinder ist, wenn sie zum Beispiel gemeinsam mit den Eltern etwas Wichtiges herstellen dürfen, wird aus dieser Erinnerung von Ernst Rietschel spürbar:
Meine ganze Glückseligkeit konzentrierte sich in die Stollen, die erst am Heiligen Abend gebacken wurden, wo ich die im Jahre gesammelten Pflaumenkerne auszuklopfen hatte, die statt bitterer Mandeln benutzt wurden. Über das Glück dieser Arbeit ging nichts; ebenso zuzusehen, wie die Mutter den Teig bearbeitete und mischte, ihn dann zum Bäcker trug, von wo sie erst spät in der Nacht nach Hause zurückkehrte und die Wohnung mit dem süßen Dufte des Gebäckes füllte. Ich hatte keinen Schlaf empfunden und wachte mit dem Vater, der das Spätaufbleiben erlaubt hatte.
(Zit. nach Rutschky, S. 36)
Es liegt nicht zuletzt an den Erwachsenen, dass Kinder gute Gefühle »sammeln« können:
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