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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oggi Enderlein
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realitätsbezogenen Persönlichkeiten. Es gibt keinen Ersatz für das Gefühl, im Wipfel eines Baumes zu sitzen, der sich im Wind hin- und herbiegt, und von dort oben eine vollkommen andere Welt zu erleben, als man sie vom Boden her kennt. Nichts wiegt das Gefühl auf, irgendwo versteckt ein fein gepolstertes Lager zu haben, in dem man alle gemopsten Lebensnotwendigkeiten hortet, in das man sich hinein- und hinausstehlen muss, ohne gesichtet zu werden. Und nichts entspricht der unvergleichlichen Mischung aus Angst, Stolz und Glück am heimlich entfachten Feuer   ...
    Tatsächlich geht es den Kindern seelisch am besten, die ihre Phantasien und ihren Erlebnishunger in der freien Natur ausleben können. Wenigstens im Sommer am altbekannten Ferienort. Wie schon einmal angedeutet, werden die Kinder heutzutage jedes Jahr an einen anderen Ferienort gespült, zu dem sie keine Beziehung haben. Das verschärft ihre seelische Isolierung. Bis sie den Platz kennen und Freunde gefunden haben, müssen sie schon wieder weg. Auch in den Ferien gibt es für viele Kinder also keine Möglichkeit, im
eigenen
Spiel, in
eigenen
Abenteuern und Erlebnissen, mit
selbst gewählten
Freunden
eigene
Gefühle zu erleben. Das Leben, das noch ein Max Kruse leben konnte, bleibt für viele Kinder ein unerfüllter Traum:
     
    Das Spiel war vom 8. bis 12.   Jahre mein wirkliches Leben, alles andere war ziemlich gleichgültig, vor allem die Schule. Ich bin überzeugt, dass in diesem Zeitraum alles in mir geworden ist, was zu meinem künftigen Lebensberuf geführt hat. Die kindliche Phantasie macht aus allem das, was es für das Spiel sein soll und würde uns, wenn wir sie nicht mit Gewalt unterdrücken würden, in gerader Linie zu schöpferischen Menschen machen.
(Kruse, S.   26)

Wo wachse ich hin?
    Die Beziehung zur Entwicklung
    G rößer zu werden, ist für große Kinder ein wichtiges Lebensthema.
    Kleine Kinder nehmen noch nicht bewusst war, dass sie sich entwickeln und verändern. In der Pubertät verändern sich in kurzer Zeit die Körpermerkmale, die den Erwachsenen vom Kind unterscheiden, da gibt es klare äußere Merkmale für Reifung und Entwicklung. Jugendliche sind »ausgewachsen«, haben die Strecke des körperlichen Wachstums hinter sich und wenden den Blick nach innen.
    Für Kinder zwischen etwa 6 und 13   Jahren geht es vielleicht sogar in allererster Linie darum, größer zu werden, sich innerlich und äußerlich zu verändern: Alles ist im Fluss, es gibt immer wieder Neues, Unbekanntes, das herausfordert und reizt, und es gibt die ollen Kamellen, die abgelegt werden müssen, denen man allmählich und unabänderlich entwächst. Das heißt, Kindheit ist auch einfach aus dem Grund, dass man unablässig aus etwas heraus- und in etwas Neues hineinwächst, ein spannendes Abenteuer, eine Zeit voller Erfahrungen, Erlebnisse, Erprobungen.
    Im Fernsehzeitalter werden Reifung, Wachstum und Veränderung für die Kinder allerdings kaum noch an sinnlichen und körperlichen Erfahrungen wahrnehmbar. Das Sitzen vor dem Fernsehapparat ist mit 2   Jahren genau dasselbe wie mit 18 oder81, da ändert sich kaum etwas an der Körperhaltung, die Umgebung ist dieselbe, und ob man allein ist oder in Gesellschaft, ist letztlich auch nichts, worin sich Alt und Jung unterscheiden. Um die Tätigkeit »fernsehen« ausüben zu können, muss man sich nicht verändern, man muss nicht wachsen, auch nicht reifen.
    Aber auch in den Lebensbereichen »ohne Fernseher« ist Entwicklung nur noch sehr indirekt zu spüren. Stellen wir uns eine ganz normale deutsche Familie des Jahres 1998 vor: Die Mutter ist 34 und arbeitet halbtags als Sekretärin. Der Vater ist 39 und arbeitet als Meister in einem Metall verarbeitenden Unternehmen. Sie haben zwei Kinder, nennen wir sie Jan und Petra, lassen wir sie 9 und 7   Jahre alt sein und in einer Dreizimmerwohnung in einem Mietshaus in einer Stadt Baden-Württembergs wohnen. Beide Kinder gehen in die Grundschule ihres Wohnbezirks, in die 1. und 3.   Klasse. Nachmittags treffen sich die Kinder mit ihren gleichaltrigen Klassenkameraden zum Spielen. Kontakte mit zwölf- oder dreizehnjährigen Kindern sind ebenso selten wie Begegnungen mit Kindern, die 2 oder 3   Jahre alt sind. Fünfzehnjährige und ältere Jugendliche kennen die Kinder nur von weitem und aus Fernsehserien, Babys kennen sie nur fest eingepackt im Kinderwagen oder aus der Fernsehwerbung. Gelegentlich treffen sie in den Familien der Klassenkameraden zwar etwas ältere

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