Große Kinder
Stellen.
Professioneller läuft das Spiel in Banden. Zunächst in den Banden der Kids, der Kinder zwischen etwa 10 und 14, die sich auf die kleinen, einfarbigen tags beschränken und die weniger versiert, weniger kriminell, auch künstlerisch noch unbedarfter agieren als die Banden der Jugendlichen ab etwa 14 und der jungen Erwachsenen, die sich einen Sport daraus machen, mit ihrem ungesetzlichen und oft höchst riskantem Verhalten die Ordnungshüter der Gesellschaft zu provozieren und ausladende, farbenprächtige, künstlerisch ehrgeizige Gemälde, »pieces« genannt, auf Wände zaubern.
Die Jüngeren treibt neben der Lust, die Großen nachzuahmen, noch etwas anderes zum »tagen«: Die Kinder schließen sich zusammen und ziehen mit Filzstiften, Farbspraydosen und Kratzgegenständen »bewaffnet« aus, um die persönlichen tags oder das Zeichen ihrer Bande an Flächen oder Gegenständen anzubringen, die von möglichst vielen Menschen gesehen werden, möglichst offen liegen oder möglichst schwer zu erreichen sind: an Waggons, die durch die ganze Stadt fahren, an Flächen,die jedermann ins Auge fallen, an belebten Plätzen, wo man großes Risiko läuft, beim tagen erwischt zu werden, an Stellen, die nur mit gefährlichen Kletterpartien oder waghalsigen Hangelkünsten zu erreichen sind. Gegnerische Gruppen kennen ihre Zeichen und nehmen die Herausforderung an, indem sie versuchen, die andere Gruppe mit der Platzierung ihrer Zeichen in den Schatten zu stellen und damit zu beweisen, dass sie noch mutiger, geschickter und respektloser sind als die anderen, die das natürlich wieder nicht auf sich sitzen lassen können ...
In einer erweiterten Spielvariante geht es darum, die tags so anzubringen, dass von einem bestimmten Standort aus, zum Beispiel einer Brücke, möglichst weit entfernt und gleichzeitig kreisförmig die Zeichen einer Gruppe oder eines Kindes zu sehen sind: Die Kinder markieren ihre Reviere. Wer das größte besitzt, ist der »King«.
Die meisten Erwachsenen sehen in diesem Spiel lediglich eine mutwillige Sachbeschädigung und empören sich über die Rücksichtslosigkeit und Dreistigkeit, mit der Kinder Dinge, die ihnen nicht gehören, verschandeln und zerstören. Wenn man aber genauer hinschaut, erkennt man, dass aus Kindersicht dieses Spiel eine Art unbewusste Notwehr und im Grunde ein genialer Schachzug ist: Die Kinder verschaffen sich damit nämlich wieder Zugang zu den öffentlichen Räumen, die ihnen von den Erwachsenen weggenommen worden sind: Mit ihren tags nehmen sie sich wenigstens symbolisch ihren Raum zurück und »rächen« sich unbewusst mit dieser Provokation an den Erwachsenen.
Es geht mir keineswegs darum, gesetzwidriges Verhalten zu rechtfertigen. In keiner Altersstufe! Dass sich Kinder in unserer Gesellschaft mit ihren »Lebensräumen« auf die Symbolebene zurückziehen müssen, halte ich aber für ein alarmierendesSignal! Denn das heißt doch, dass es keine ausreichenden Möglichkeiten mehr gibt, sich auf freiem Feld ohne Aufsicht von Erwachsenen zu begegnen.
Und trotzdem schaffen es die Kinder offenbar, ihre Lebensbedürfnisse den Möglichkeiten irgendwie anzupassen. Im tagen wird das besonders deutlich: Erstens können sich die Kinder aneinander messen, ohne sich direkt zu treffen: Sie brauchen sich also nicht auf einen gemeinsamen Zeitpunkt zu einigen, um sich auseinander zu setzen. Und gemeinsame Termine zu finden, wäre für die verplanten Kinder heutzutage ohnehin schier unmöglich. Zweitens umgehen sie mit dieser Form der Auseinandersetzung die direkte Konfrontation, zunächst wenigstens, was angesichts der immer häufigeren realen Bewaffnung unter Kindern nur zu begrüßen ist. Das Sprayen ist heute somit vielleicht sogar die friedfertigste Form von kindlichem »Kampf«. Drittens sind die Anforderungen an Mut, Kraft, Geschicklichkeit, Intelligenz, Phantasie, Umsicht und Einschätzung des Gegners und der Erwachsenen ebenso groß wie bei einem direkten Kampf. Und schließlich wird das Zugehörigkeitsgefühl der Mitglieder zu ihrer Gruppe durch die überall sichtbaren Gruppenzeichen in besonderer Weise gepflegt.
Die Symbolebene und die indirekte Auseinandersetzung sind aber offenbar nicht der Weisheit letzter Schluss. Zunehmend tauchen in jüngster Zeit noch andere Formen von Kinderbanden auf: Vor allem Jungen, aber auch Mädchen, schließen sich in »Mafiagruppen« zusammen, um andere Kinder einzuschüchtern und zu erpressen und damit ihre »Stärke«, ihre Macht unter
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