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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oggi Enderlein
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Beweis zu stellen. Die leitenden Phantasien, Ziele und Handlungsweisen holen sie wie ehedem aus der Erwachsenenwelt, aus Nachrichten, Filmen, Zeitschriften. So gesehen, hat sich nichts geändert im Vergleich zu früher.
    Neu, unnatürlich und einer gesunden, normalen sozialen und emotionalen Entwicklung hinderlich sind aber zum einen die realen Waffen, die den Kids heute zur Verfügung stehen: Durch sie bekommen die Androhungen von Gewalt, die Schutzgelderpressungen, die Raubzüge und dergleichen mehr eine viel zu erwachsene, bitterernste Dimension, die mit einer
menschlichen
Auseinandersetzung nicht mehr das Geringste zu tun hat!
    Das zweite »Neue« am Verhalten dieser Kindergruppen ist, dass sich ihre Aggressionen gegen Einzelne und oft »schwache«, sogar behinderte Kinder wenden, die eingeschüchtert, bestohlen und verletzt werden. Wie bei den echten Mafiaorganisationen der Erwachsenen und den gewalttätigen Gruppierungen der rechten Szene wird die direkte Auseinandersetzung mit einer ebenbürtigen »Truppe« gemieden. Es geht hier nicht mehr ums Kräftemessen unter gleichwertigen Partnern, sondern nur noch um Macht durch Unterdrückung Wehrloser, die dieser Form von Machtausübung   – noch?   – nichts entgegenzusetzen haben. Auch darin spiegelt die Kinderwelt die Welt der Erwachsenen.
    Ein Wort zum Alter dieser Kinder. Erwachsene beklagen, dass die Kinder, die sich in Banden oder Gangs organisieren und gegen andere Kinder zu Felde ziehen, immer jünger werden. Das stimmt: Bis vor wenigen Jahren waren die Mitglieder der Gangs, die gewalttätig durch die Straßen unserer Städte zogen, fast ausnahmslos zwischen etwa 15 und 23   Jahren alt. Das erste natürliche kindliche »Bandenalter« aber liegt nach allen Informationen aus nicht industrialisierten Kulturen zwischen etwa 10 und 12   Jahren, mit einer Streuung nach unten bis etwa 8 und nach oben bis etwa 15   Jahre.
    Offenbar hat sich das »Bandenalter« in den Industrienationen nach oben verschoben. Die Gründe liegen auf der Hand:Jüngere Kinder sind überfordert, sich in den vor Autos überfüllten Straßenlandschaften der Städte zu organisieren, außerdem leben sie unter enger Kontrolle der Erwachsenen und/oder werden durch die Medien in ihren Häusern festgehalten. Erst ab etwa 15   Jahren gelingt es den Heranwachsenden in unserer Gesellschaft, sich frei zu bewegen. Und dann müssen sie offenbar nachholen, was sie vorher versäumt haben: Denn wenn man sich genauer anschaut, worin das Ziel der Banden von Fünfzehn- bis Dreiundzwanzigjährigen liegt, dann ist es im Grunde in verschärfter Form genau das, was eigentlich in das Alter der Zehn- bis Zwölfjährigen gehört: Neben dem Bedürfnis, Mitglied einer Gruppe zu sein (das natürlich auch jugendtypisch ist), ist es die Sehnsucht, sich in abenteuerlichen, gewagten, gefährlichen Aktionen zu behaupten, sich mit der eigenen Angst auseinander zu setzen, sich an anderen zu messen, die eigenen Stärken und Schwächen, Vorzüge und Nachteile im Vergleich mit Menschen der eigenen Generation kennen zu lernen, das heißt seinen persönlichen Stellen-Wert im Leben zu finden.
    Wörtlich genommen ist also, zumindest teilweise, das Bedürfnis, dem die Jugendbanden der Industrieländer nachgehen, »verrückt«, verschoben. Es ist der nicht altersgemäße verzweifelte Versuch, etwas Verpasstes nachzuholen. Wenn man 15 oder 18   Jahre alt ist, müssen aber offenkundig schärfere Geschütze aufgefahren werden, um die im Alter von 10, 12   Jahren versagten Erfahrungen und Gefühle auch nur annähernd gleichwertig zu erleben und nachzuholen   – wenn Gefühle überhaupt gleichwertig nachholbar sind.
    Gruppen ohne Gegner
    Neben den Banden, Gangs und Grüppchen, die sich als Gegner gegenüberstehen, gibt es unter Kindern zwischen etwa 10 und 12   Jahren auch jene unzähligen Clubs und Vereine, die keine (realen) Gegner brauchen und sich selbst genug sind.
    Erinnern Sie sich vielleicht an die Zirkustruppe, die waghalsige akrobatische Kunststücke, Zaubertricks, »Tierdressuren« und Ähnliches einstudierte und an einem abendfüllenden Programm feilte? Oder arbeiteten Sie Nachmittage lang zusammen mit den Freundinnen an einer Disko-Show, entwarfen grelle Kostüme, tolles Make-up und übten perfekte Präsentation und Playback? Oder lernten Sie in Ihrer »Fußballmannschaft« bei verschworenen Trainingstreffen fachgerechte, täuschend echte »Schwalben« hinzulegen und sich anschließend über das »übelste aller

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