Große Kinder
sind, sich vor allem mit dem »Training« der sozialen Fähigkeiten zu befassen und voller Lust dieses neue und aufregende Wir-Gefühl in allen Variationen zu suchen und auszuprobieren.
Das Gefühl, eine verschworene Gemeinschaft zu sein, entsteht natürlich vor allem, wenn man miteinander Dinge tut, die verboten sind. Im Unterschied zu den Acht-, Neunjährigen aber schielen Zehnjährige bei ihren Grenzüberschreitungen nicht mehr so fragend und lauernd auf die Erwachsenen. Das Verbotene, das sie treiben, hat vor allem den Sinn, gemeinschaftlich die Welt kennen zu lernen. Und zur Welt gehören auch die Erwachsenen. Wenn Zehnjährige also bei dem »Scheiß«, den sie »bauen«, die Erwachsenen im Blick haben, dann in der Regel, um sie gezielt zu provozieren – mit einer langen Nase und einer beachtlichen Selbstsicherheit im Rücken!
Ganz wichtig ist also das Zusammensein mit Gesinnungsgenossen. Bei fast allen erwachsenen Erzählern stehen viele von tiefen Gefühlen geprägte Erinnerungen an die Erlebnisse, die indieser Lebensphase durchlebt und zuweilen auch durchlitten wurden, in unmittelbarem Zusammenhang mit der Gruppe, dem Geheimbund, der Bande, dem Verein, dem Club, der Clique oder auch der Klassengemeinschaft, der Sportmannschaft, der Freizeitgruppe.
Die Gemeinschaft der Gleichaltrigen
Die Gruppen, die Kinder in diesem Alter bilden, sind höchst unterschiedlich und oft recht flüchtig. Manchmal bestehen sie nur einen Nachmittag, gelegentlich ein paar Wochen, selten mehrere Jahre. Wie groß die Altersstreuung und die Zahl der Mitglieder einer Gruppe ist, ob es gemischte oder reine Jungen- beziehungsweise Mädchengruppen sind, hängt davon ab, wie herausfordernd und reizvoll das gemeinsame Ziel ist und wie viel Freiraum den Kindern zur Verfügung steht. Wenn sich zum Beispiel eine ganze Dorfgemeinschaft von Kindern zwischen 7 und 15 Jahren zusammenrottet, um eine widerstandsfähige gemeinsame Festung zu bauen, dann entsteht offenbar ein intensiveres und länger anhaltendes Gruppenleben, als wenn sich vier zehnjährige Mädchen nur zu dem einen Zweck zusammenschließen, eine Klassenkameradin auszuschließen.
Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die zu dem – für die erwachsenen Forscher überraschenden – Ergebnis gekommen sind, dass in den beobachteten Klassengemeinschaften (um die 4. Klasse herum) meistens weniger als die Hälfte der Kinder sagen, sie seien Mitglied einer Clique. In den Gesprächen, die ich mit Erwachsenen über ihre Kindheit geführt habe, und in fast allen Lebenserinnerungen aber wird von einschlägigen Erfahrungen mit Gruppen, Cliquen und Banden in diesem Alter berichtet. Das spricht vielleicht dafür, dass nicht die Dauer der Gruppenerfahrung wichtig ist, sondern dass auchkürzere Erfahrungen ihre Spuren hinterlassen können, wenn die Erlebnisse nur intensiv genug waren. Möglicherweise ist aber allein schon die Tatsache, dass sich vier, fünf aktive, wortstarke Kinder zu einer Gruppe zusammenschließen, eine Form von »Gruppenerfahrung« auch für die »nicht organisierten« Kinder.
Auch oder gerade das Gefühl, »Außenstehender« zu sein, ist ein wichtiges, wenn auch meist recht schmerzliches »Gruppenerlebnis« für Kinder dieser Altersstufe. Oft löst dieses Gefühl bei dem einen oder anderen der »Ausgeschlossenen« eine Gegenbewegung aus, und es bildet sich eine Gegengruppe, die wiederum nicht alle Kinder der Klassengemeinschaft einbezieht. Es entsteht die berühmt-berüchtigte Cliquenwirtschaft der 4. und 5. Klassen, die unter den Ausgeschlossenen größte Sehnsüchte, tiefste Verletzungen und bittersten Ärger auslöst. Das ruft dann die um ihre Kinder besorgten und in ihrem eigenen Stolz getroffenen Eltern auf den Plan und im Nu ist die Vereinsmeierei der Kinder in die Erwachsenenwelt hinübergeschwappt, wo die Auseinandersetzungen dann eine neue, viel ernstere Dimension bekommen.
So ist es schon vor 100 Jahren gewesen, zu Zeiten von Louis Pergaud, dem Autor des
Krieg der Knöpfe,
und so lassen sich auch heute noch Erwachsene von ihren im Grunde nichts Böses wollenden Kindern in Auseinandersetzungen und gegenseitige Kränkungen hineinziehen. Im Gegensatz zu den Erwachsenen »brauchen« aber die Kinder ihre Gruppenerfahrungen mit allen dazugehörenden sozialen und emotionalen Lehrstunden, und sie können die Erfahrungen normalerweise nach und nach auch ganz gut einordnen, überwinden und sogar abfangen.
Die Erwachsenen wären gut beraten, ihren
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