Große Kinder
vergleichen dürfen. Das kostet Energien, dazu braucht man Gelegenheit und Zeit, und da ist es kein Wunder, wenn die Schule und der andere »Alltagskram« manchmal ins Hintertreffen geraten.
Wenn zwei oder mehrere zwölfjährige Jungen zusammensind und sich unbeobachtet fühlen, geht es sehr oft ziemlich »unanständig« zu. Es ist das Alter der zotigen Witze, der Pornohefte, der versteckten und gehüteten Nacktfotos von vollbusigen Frauen, der sexistischen »Fachwörter«, der Angebereien mit »Erfahrungen«. Mit Sicherheit geht eine gute Anzahl der obszönen Zeichnungen und Wörter, die auf Wänden, in Aufzügen und an anderen öffentlichen Stellen erscheinen, auf das Konto der Zwölfjährigen.
Zur neuen Perspektive, die sich zwölfjährigen Jungen öffnet, gehört selbstverständlich auch, dass sie auf einmal Frauen (selbst wenn sie ihre Mütter sein könnten) mit anderen Augen sehen: mit »Sex-Augen«. Auch das muss erst einmal verarbeitet werden!
Emanzipierte Frauen und Männer, die sexistische Umgangsformen zu Recht ablehnen, weil darin immer auch eine Missachtung der Person des anderen mitschwingt, brauchen nicht in Panik zu geraten, wenn sie bei zwölfjährigen Jungen »Sexismus« entdecken. Mit dem Sexismus ist es wie mit dem Nationalismus und den anderen Teufelchen, die wir so in uns haben: Sie müssen erst einmal ungehindert rauskommen dürfen, damit man sie überwinden kann. Werden sie von Anfang an unterdrückt, dann kommen sie nur später und dafür umso kräftiger zum Vorschein.
Jungen in der frühen Pubertät, für die der Sexappeal von Frauen zum beherrschenden Eindruck werden kann, brauchen Männer als Vorbilder, die ihnen vorleben, dass sie an Frauen andere, menschlichere Qualitäten schätzen. Wenn Jungen in diesem Alter Männer und Frauen erleben (auch die Eltern!), die einander mit Achtung und menschlicher Wärme begegnen, dann werden sich ihre eigenen (Macht-)Gelüste von selbst legen. Und auch Mädchen brauchen natürlich Vorbilder, an denen sie sehen, dass eine Frau als
Mensch
geliebt und geachtetwird und dass sie nicht darauf angewiesen ist, sich männlichen Bedürfnissen zu unterwerfen, wenn sie »anerkannt« und »geliebt« werden will.
Selbstverständlich ist das Thema Sexualität auch für die Mädchen wieder »neu« und wichtig. Bei ihnen drehen sich aber Gedanken und Phantasien eher um andere Dinge als bei den Jungen: Mädchen beschäftigen sich in Gesprächen untereinander und in einsamen oder gemeinsamen Schwärmereien intensiv mit der Beziehung zwischen Mann und Frau: Männer und Jungen werden rein gefühlsmäßig – und zwar mit sehr viel Gefühl! – »kritisch« begutachtet. Ihre Tauglichkeit als Freund, Liebhaber und (Ehe-?)Mann ist das Maß aller Dinge, wobei die sexuellen »Fähigkeiten« in ihren Phantasien noch nahezu keine Rolle spielen.
Selbstbefriedigung scheint in diesem Alter bei Mädchen nach wie vor weniger verbreitet zu sein als bei Jungen, und wenn, dann ist sie ein viel privateres Thema als bei den gleichaltrigen Jungen.
Für Mädchen steht im Vordergrund, das auszuprobieren, wie man als Frau auf Männer wirkt und welche Gefühle man bei ihnen in Gang setzen kann. Dabei können sich die Mädchen allerdings nicht im Geringsten vorstellen, welche Gefühle (und Gelüste) sie bei Männern damit wirklich erregen können. Umgekehrt wollen die Mädchen natürlich auch erfahren, wie sie selbst auf Männer reagieren. Und so wird daraus das erste gezielte, lustvolle, aber noch sehr naive Spiel mit erotischen Bällen, die sich die Geschlechter gegenseitig zuwerfen.
Sexualität ist eine höchst persönliche Angelegenheit. Die Tatsache, dass in unserer Kultur inzwischen über Sexualität frei und offen gesprochen wird, sollte Eltern von Zwölfjährigen nicht täuschen: Auch wenn die Beziehung zum Sohn oder zurTochter noch so gut ist, braucht das Kind vor allem in diesem Bereich seine geschützte Intimsphäre und taktvolle Zurückhaltung von Seiten der Erwachsenen.
Oft fragen sich Eltern, ob sie etwas falsch gemacht haben, weil sie spüren, dass sich ihr Sohn oder ihre Tochter ausgerechnet mit den Fragen zur Sexualität ihnen gegenüber so verschlossen zeigt. Mein Eindruck aus Gesprächen mit Erziehern und Eltern und aus eigener Erfahrung ist, dass auch heute noch in Deutschland weitgehend gilt, was Arnold Gesell schon 1957 über amerikanische Zwölfjährige geschrieben hat: »Wie es scheint, sucht der Zwölfjährige gewöhnlich lieber bei wohlmeinenden, aber
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