Große Kinder
fremden Leuten Aufklärung als bei den eigenen Eltern, so offen und vertrauenserweckend diese auch sein mögen.« (Gesell,
Jugend,
S. 129)
Die Fragen, die Kinder zum Thema Sexualität haben, müssen natürlich beantwortet werden. Am liebsten ist ihnen offenbar eine Form, in der ihre eigene Betroffenheit nicht sichtbar wird. Deshalb sind Zeitschriften so beliebt, in denen es einschlägige Informationen gibt – und in denen Leserbriefe von Gleichaltrigen beweisen, dass man mit seinen Fragen und Problemen nicht allein ist auf der Welt. Deshalb »klären« sich Zwölfjährige mit Witzen und Zoten, aber auch mit ernsthaften Informationen oft lieber gegenseitig »auf«, als sich einem nahe stehenden Erwachsenen gegenüber zu offenbaren. Und darum ist Sexualkundeunterricht, in dem ganz allgemein über diese Themen gesprochen und informiert wird – und in dem die Lehrer nicht vordergründig nach den eigenen Erfahrungen und Problemen der Kinder fragen – oft der bessere Weg, als ein zu offenes, nur scheinbar »vertrauliches« Gespräch.
Vielleicht ist es ja für Zwölfjährige sogar ein wesentliches Merkmal des Erwachsenwerdens, dass sie sich diesen Teil der neuen Lebenswelt, die sich da vor ihnen öffnet, selbständigerschließen wollen, ohne ungefragt von den Erwachsenen »an die Hand« genommen zu werden!
Die Gefühle
In ihrer Zwischenstellung zwischen Kind und Jugendlichem steht Zwölfjährigen eine beneidenswert breite Palette von Gefühlen zur Verfügung. Und sie spielen mit Gefühlen, wenn sie in ihrer Phantasie von einer Rolle in die nächste schlüpfen:
Wenn eine Horde von Zwölfjährigen sich auf dem Bolzplatz trifft, um Fußball zu spielen, dann kämpfen dort vielfache Jürgen Klinsmanns, Matthias Sammers und Lars Rickens gegeneinander. Wenn ein Zwölfjähriger auf dem Fahrrad aus Leibeskräften in die Pedale tritt, ist er sicher nicht er selbst, sondern Jan Ullrich oder Miguel Indurain. Reiterinnen sind insgeheim Ludger Beerbaums oder Isabell Werths. Beim Tischtennis stehen sich (obwohl nur am »Tisch«) Boris Beckers und Pete Sampras’ oder Steffi Grafs und Martina Hingis’ gegenüber. Beim Üben mit der Gitarre sieht sich der »Star von morgen« bereits inmitten der Backstreet Boys auf der Bühne. Diese Rollenphantasien sind verbunden mit einer Fülle von »erwachsenen« Lebensgefühlen, die von den Kindern in aller Intensität erlebt werden. Daran wachsen sie.
Daneben können Zwölfjährige unvermittelt zu »Kleinstkindern« werden. Und die Eltern sind entsetzt, wenn ihr zwölfjähriger, fast »erwachsener« Sohn mehr als je zuvor am Kuscheltier im Bett festhält. Oder wenn die Tochter mit ihrer Freundin plötzlich wieder »Baby« spielt, quietschend Babysprache lallt und mit verschämter Albernheit am Fläschchen nuckelt.
Es ist, als spürten die Kinder, dass die Zeit der unbefangenen Kindergefühle dem Ende zugeht. Als würden sie das »Paradiesder Kindheit« noch einmal bewusst durchstreifen, bevor sie es verlassen müssen. Oder als wollten sie sich festhalten an etwas Vertrautem, das ihnen Halt gibt.
Trotz der großen Spannbreite von Phantasien und Gefühlen sind Zwölfjährige (wenn sie relativ natürlich und unbeschwert heranwachsen konnten), alles in allem mit sich und der Welt meistens noch einigermaßen im Reinen. Aber das Schwungrad der Pubertät beginnt sich langsam in Bewegung zu setzen. Gefühlsausbrüche sind noch eher wie das Donnergrollen, mit dem sich ein Gewitter ankündigt. Das Gewitter selbst – die wirkliche pubertäre Gefühlsexplosion – steht noch bevor.
Das Ende einer Entwicklungszeit?
Mit 12 Jahren kündigt sich eine neue Entwicklungszeit an, neue Horizonte brechen auf. Mit 12 Jahren wachsen die Menschen damit aus einer vorangehenden Entwicklungsepoche heraus. Als Beispiel will ich auf zwei wissenschaftliche Erkenntnisse hinweisen, die diesen Übergang belegen:
Sportwissenschaftler haben festgestellt, dass mit etwa 12 Jahren feststeht, wie die Bewegungsabläufe bei sportlichen Tätigkeiten aussehen werden und mit welcher Energie der körperliche Einsatz betrieben wird: So wie man es mit 12 Jahren tut, wird man im Prinzip auch noch mit 40 Jahren sprinten, Tennis spielen oder sich im Fußballspiel einsetzen.
Sprachforscher haben herausgefunden, dass die Möglichkeit, eine Sprache ohne Akzent zu lernen, etwa mit 12 Jahren beendet ist: Japaner haben bis zum Alter von 12 Jahren die Möglichkeit, »r« und »l« zu unterscheiden und
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