Große Kinder
Schätzung zurück, ich kam mir jünger und – dümmer vor, wiewohl mich die abgesengten Augenbrauen, Wimpern und Stirnhaare seltsam alt aussehen machten.
(Rutschky, S. 367 f.)
Ich zitiere diese Geschichten, weil ich zu viele Lehrer und Eltern erlebt habe, die sich regelmäßig nach dem Ende der Weihnachstferien darüber beklagen, wie viel schlimmer und verantwortungloser die Schüler heutzutage mit Knallkörpern umgingen als früher. Da mag schon was dran sein. Aber wie schon an früherer Stelle angedeutet, stellt sich die Frage: Wie sollen die Jungs »vernünftigen« Umgang mit Feuerwerkskörpern lernen, wenn sie nur einmal im Jahr die Gelegenheit haben, mit ihnen zu experimentieren?
Meistens beklagen die Erwachsenen gleichzeitig, dass heutzutage viel jüngere Kinder schon »mit dem Unfug anfangen«: »Schon in der 6. Klasse geht das los!« Fragt man die Lehrer oder Väter nach ihren eigenen Erfahrungen mit Feuerwerk und versucht man festzustellen, wie alt sie damals selbst waren, dann sind alle gemeinsam überrascht, dass sich so viel wohl doch nicht verändert hat im Vergleich zu früher ...
Die einzige wesentliche Änderung ist, dass aus den Lausbuben von damals inzwischen (zu Recht) besorgte Väter undLehrer geworden sind. Wie die Eltern aller Zeiten
sollen
sie ja um die Gesundheit ihrer Söhne besorgt sein, weil sie wissen, wie schlimm tatsächlich manchmal dieses Spiel mit dem Feuer ausgehen kann. Deshalb ist es wichtig, den Söhnen davon zu erzählen oder besser noch, ihnen frühzeitig zu zeigen, wie man richtig damit umgeht.
Trotzdem: Ein bisschen Zuversicht und Vertrauen von Seiten der Erwachsenen in die vernünftige Risikoabschätzung der Jungen wäre für die Entwicklung des Selbstbewusstseins der Kinder heutzutage schon gut. Denn die Entwicklung von Selbstbewusstsein hängt auch damit zusammen, dass man mit Risiko umgehen kann – nur muss man das irgendwann lernen. Wer die Erfahrung als Zwölfjähriger nicht gemacht hat – das ging gerade mal noch gut, ich habe die Situation glücklicherweise mehr oder weniger unbeschadet überstanden und das reicht mir ein für alle Mal –, der wird entweder ein ewiger Zögerer mit verkümmertem Selbstbewusstsein bleiben oder später versuchen, seine »Ich-Stärke« mit ganz anderen Methoden unter Beweis zu stellen.
Jugendliche in unserer modernen Kultur verlagern ihre Risikoerfahrungen zum Beispiel allzu oft auf die Zeit, wenn sie endlich den Führerschein in der Tasche haben: Dann rasen sie im Auto oder auf dem Motorrad wie wild durch die Gegend: Volles Risiko! Wie die Folgen dieser Risikoerfahrungen oft sind, ist bekannt.
Selbst-Zweifel
Mit wachsendem Selbstbewusstseins entwickelt sich notgedrungen auch dessen Kehrseite: Zwölfjährige beginnen an sich selbst zu zweifeln, indem sie anfangen, sich mit ihren Altersgenossen auf eine neue Art zu vergleichen. Zwölfjährige sind deshalb meistens höchst empfindlich. Sie überlegen zum Beispiel,wie sie auf andere wirken und was sie falsch machen, wenn sie sich abgelehnt fühlen (und manche fühlen sich ständig abgelehnt). So denken sie beispielsweise darüber nach, ob es ihrem »Ruf« schaden könnte, wenn sie ein gegebenes Versprechen nicht einhalten.
Gleichzeitig ist ihr Taktgefühl allerdings noch etwas unterentwickelt und sie lassen den anderen schonungslos spüren, wenn sie sein Verhalten nicht o.k. finden. Dazu passt, dass in 6., 7. Klassen oft das berühmte und bedauerliche Streber-Thema aufkommt: Gute Schüler werden auf einmal harsch kritisiert und ausgegrenzt – und diese Kritik, von Gleichaltrigen geäußert, trifft dann auch prompt die empfindlichste Stelle des keimenden neuen Ich-Gefühls! »Schlechte« Schüler beginnen auf einmal wirklich zu leiden und daran zu zweifeln, ob sie überhaupt zu etwas taugen.
Hierher gehört auch der »Uniform-Druck« bei der Kleidung, der überhaupt nicht typisch für die Kinder unserer modernen Konsumwelt ist, sondern zum Beispiel schon 1850 ein heißes Thema unter Zwölfjährigen war:
Ich erinnere mich hauptsächlich eines glühenden Wunsches, der war, gleichfalls wie die anderen ein Haarnetz, was damals Mode, zu bekommen. Mutter fand, daß meine Zöpfe auch ohne Netz aufzustecken seien, und ich bekam keins! Da wurde dies Verlangen so glühend, daß ich alle Tage einer Klassengefährtin Lina M. die Hälfte meines Weckens gab, damit ich in der Schulpause ihr Netzchen aufsetzen durfte. Eine unbeschreibliche Freude war
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