Große Liebe Desiree
getroffen«, sagte sie, das Gesicht im Licht der Laterne nach oben gewandt, als könnte sie durch die Bretter sehen, was an Deck vor sich ging. Die Geräusche waren jetzt eindeutig: das Krachen von trockenem, splitternden Holz, der erschütternde Knall einer umstürzenden Kanone und am schlimmsten die Schreie der Verwundeten und Sterbenden.
Entsetzt wollte Désirée aufstehen, doch Mary hielt sie zurück. »Bleib hier, Lämmchen, wir bleiben, bis sie nach uns schicken.« Ihre Stimme war ruhig, aber ihr rundes Gesicht war wächsern, gezeichnet von der Angst um die Männer über ihnen. »Jetzt können wir nichts mehr tun außer beten.«
Das Wimmern des Babys weckte Désirée, ein leises, gedämpftes Weinen, mit dem es seinen Hunger meldete. Mary kümmerte sich sofort um das Kind. Verwirrt richtete Désirée sich von dem Stapel Hängematten auf. Sie rieb sich die Arme, die kalt und steif waren, und lauschte. Das Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf, das Knarren der Balken, das Geräusch der Pumpen und die Rufe der Männer auf Deck klangen so normal, so vertraut, daß sie sich fragte, ob die Schlacht nicht vielleicht nur ein Alptraum gewesen war.
»Wie lange sind wir schon hier?« fragte sie mit einer Stimme, die rauh war vom Schlaf und vom Durst.
Von Marys Fröhlichkeit war nichts mehr übriggeblieben. »Weiß ich nicht. Vielleicht ist noch Nacht, vielleicht schon Morgen. Ich habe versucht, die Glocke zu hören, aber vielleicht wurde sie abgeschossen.«
»Haben wir gesiegt?«
»Jedenfalls haben wir nicht verloren, sonst hätten schon ein paar langnasige französische Bastarde unter deinen Unterröcken herumgeschnüffelt.« Mary seufzte tief. »Aber sie müssen uns schwer getroffen haben, daß wir so durchs Wasser schlingern.«
Schwere Schritte donnerten die Stufen herunter, gefolgt von einem Freudenschrei, als ein Mann mit groben Gesichtszügen in der Luke erschien. »Mary, Liebes, welch ein Anblick für diese alten Augen!«
»Samuel!« Im selben Moment lag Mary ihrem Mann in den Armen. Freudentränen glitzerten in ihren Augen. »Du bist gesund, gelobt sei der Herr, du bist nicht verletzt!«
»Nein, geliebtes Weib, du weißt doch, ich werde weder dich noch den Jungen jemals verlassen.« Ohne sie loszulassen, drehte er sich herum, um nach dem Kind zu sehen. Seine Liebe stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, daß Désirée die eigene Einsamkeit um so schmerzlicher empfand.
»Er hat kaum geschrien, Sam«, erklärte Mary stolz. »Du wirst aus ihm noch einen Kanonier machen, keine Frage. Aber sag mir, was passiert ist!«
Samuels Gesichtszüge verfinsterten sich. »Das war ein hartes Stück Arbeit, Mary. Die Franzosen kamen schnell auf uns zu, und obwohl der Käpt’n uns wenden ließ, damit wir sie durchlöchern konnten, haben sie unseren Besanmast abgeschossen und, was schlimmer ist, das Steuerrad und jeden Mann am Ruder. Wir hätten sie kriegen sollen, Mary, aber weil die Aurora kaum noch manövrierfähig war, kamen die Kerle noch einmal davon.« Behutsam ließ er sie los, und sie sahen sich an. »Wir haben viele Männer verloren oder beinahe verloren, Mary, also mach dich auf was gefaßt.«
Désirées Furcht wuchs mit jedem Wort. Jeden Mann am Ruder verloren. Mach dich auf was gefaßt...
»Bitte sagen Sie mir, was ist mit Kapitän Herendon?« fragte sie. Sie hielt es nicht mehr länger aus. »Wo ist er?«
Offensichtlich war Samuel Clegg überrascht. Désirée hier bei seiner Frau zu finden, und er zögerte ein bißchen zu lange mit seiner Antwort. Désirées Furcht wuchs ins Unermeßliche. »Ja, der Käpt’n, nun, vermutlich wird er noch unten beim Arzt sein zusammen mit den anderen Verwundeten.«
»Verwundet!« Ohne auf weitere Einzelheiten zu warten, eilte Désirée die Stufen zum Zwischendeck hinauf, das zum Behandlungszimmer führte.
»Miss, Sie können da nicht hin!« rief Sam ihr nach, doch Désirée rannte bereits durch das dämmerige, offene untere Deck, getrieben von dem Gedanken, Jack zu finden.
Lieber Gott, nicht auch noch Jack.
Der Geruch von Schießpulver vermischte sich mit dem von verbranntem Holz, die Luft im Zwischendeck war noch voller Qualm. Und während Désirée sich dem Behandlungsraum näherte, kam ein weiterer Geruch dazu. Der von Blut wie bei einem Schlachter, und sie konnte die Verwundeten hören, die wimmerten, fluchten und vor Schmerz schrien. Einer der Gehilfen des Arztes, dessen Kleidung dunkel vom Blut und dessen Hände und Arme davon gerötet waren, eilte
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